Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Damenvelos, für Radfahr-Pelerinen, Hundepeitschen, Wettermäntel und Radfahrer-Proviant.
»Radfahrer-Proviant – was darf man sich denn darunter vorstellen?«, fragte Josefine. Vielleicht sollte Oskar Reutter das anstelle seiner Zigarren anbieten? Sie lachte.
Luise Karrer hob tadelnd die Brauen. »Ein sehr ernstzunehmendes Thema, meine Liebe! Wer ausdauernd Rad fährt, muss die richtige Nahrung zu sich nehmen. Nüsse, Trockenobst, Kekse – Speisen eben, die wieder neue Kräfte verleihen.«
Josefine nickte beeindruckt.
Chloé blätterte um. » Was ist denn das? ›Radrennen – eine neue Unsitte breitet sich unter den Velofahrerinnen aus‹ , las sie stirnrunzelnd vor. »So wie es aussieht, scheint die Draisena etwas gegen Damenrennen zu haben. Schade …«
»Vielleicht ist es auch nur ein einzelner Schreiberling«, bemerkte Luise Karrer hoffnungsvoll.
Josefine zuckte mit den Schultern. »Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung. Dass es überhaupt eine Zeitung nur für uns Radlerinnen gibt, ist doch schon unglaublich genug. Was macht es da, wenn uns nicht jeder Artikel gefällt!«
Als sie kurze Zeit später das Vereinsheim verließ, sah sie ihn doch noch. Gekleidet in einen schwarzen Anzug, auf dem blonden Schopf einen schwarz glänzenden Zylinder und unterm Arm eine Aktenmappe, erschien Adrian ihr so fremd wie noch nie. Seine Miene war düster, sein Blick abwesend, als er aus dem Herrenvereinsheim hastete. Er sah sie im letzten Moment.
»Josefine …«
»Zum Radfahren bist du allem Anschein nach nicht gekommen«, sagte sie mit belegter Stimme und mit Blick auf seine Kleidung.
»Mein Vater bekommt gleich im Stadtschloss einen Ehrentitel verliehen, der Kaiser ernennt ihn zum Kommerzienrat. Mich hat Vater auf die Liste der Redner gesetzt, allerdings habe ich meine Stichworte hier im Spind liegenlassen. Ich bin nur gekommen, um sie zu holen.« Er verzog das Gesicht, als habe er Zahnschmerzen.
Ein Ehrentitel. Kommerzienrat. Ein Besuch beim Kaiser. Und Isabelle an Adrians Seite, gekleidet in Lage über Lage der feinsten Spitze.
Unwillkürlich wich Josefine einen Schritt zurück.
Adrian, dem ihre Reaktion nicht entgangen war, ging hin und entfernte ein Kastanienblatt aus den Speichen ihres Rads. »Wie ich sehe, hast du den Roadster nun auch auf der Bahn ausprobiert. Und – hat er sich bewährt?«, sagte er in leichtem Ton.
Obwohl ihr auf einmal zum Heulen zumute war, beschloss Josefine, darauf einzugehen. »Der Roadster hat seine Sache gut gemacht, ich hingegen …« Sie seufzte tragikomisch. »Keine Ausdauer!«
»Dann sollten wir dringend dafür sorgen, dass du welche bekommst. Wie wäre es, wenn wir nächste Woche wieder gemeinsam Velo fahren – solang die Welt noch schläft?«
Jo zögerte. Das alles machte doch keinen Sinn, schoss es ihr durch den Kopf.
»Sag ja«, flüsterte Adrian und strich ihr unvermittelt über die Wange. Sein Kopf war auf einmal so nahe, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte. Warm und süß. »Bitte, sag ja. Im Wissen, dich wiederzusehen, ertrage ich den heutigen Abend leichter. Du weißt nicht, wie viel lieber ich bei dir wäre …«
Eine Stunde später fing es an zu regnen und es hörte das ganze Pfingstwochenende über nicht mehr auf. Josefine kamen die Tage lang und die Nächte noch länger vor. Draußen war es kühl und im Haus erst recht. Trotzdem hatte Josefine keine Lust, Feuer zu machen. Sie hatte zu gar nichts Lust! Wie ein Tiger, der in einen viel zu kleinen Käfig eingesperrt war, lief sie auf und ab und konnte nichts mit sich anfangen. Arbeit hätte sie genug gehabt, aber sie traute sich nicht, an einem kirchlichen Feiertag in der Werkstatt zu klopfen und zu hämmern. Wenn wenigstens Clara auf einen Sprung vorbeigekommen wäre!
So verbrachte Josefine die Tage Zeitung lesend und mit Friedas Katze auf dem Sofa, eingemummelt in die alte Häkeldecke. Sie hätte sich noch viel einsamer gefühlt, wenn nicht ein Satz ihr Herz gewärmt hätte.
»Du weißt nicht, wie viel lieber ich bei dir wäre …«
24. Kapitel
»… allein das Treppenhaus von diesem Schloss! Der berühmte Architekt Schinkel hat es entworfen, die Wände, der Boden, die Decke – alles ist aus einem cremefarbenen Marmor, der einen leichten Stich ins Roséfarbene hat. Ein endloser roter Teppich bedeckt die Treppe, ich bin mir nicht sicher, ob sie ihn speziell für diesen Abend aufgelegt haben oder ob er die Treppe immer ziert.« Aufgekratzt wedelte Isabelle mit der
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