Solang die Welt noch schläft (German Edition)
zuvor angeschnitten hatte, zurück. »Alle sind begeistert von ihm. Kein Wunder, der Mann ist der geborene Erzähler. Er hat ein einnehmendes Lächeln, er sieht gut aus … Und was seine Leistungen auf dem Rad angeht, kann er wirklich einiges vorweisen, vorausgesetzt, es stimmt, was er erzählt. Aber davon gehe ich eigentlich aus.«
Clara lächelte. »Das hört sich ja an, als wärst du selbst ein bisschen verliebt in den Mann.«
»Ich? Nie im Leben!«, wehrte Jo lachend ab. »Ich finde ihn nett, ja. Aber mir kommt er vor wie ein Bruder Leichtfuß, der in erster Linie nur sein eigenes Wohl im Auge hat. Als Isabelle ihn beispielsweise fragte, wie lange er in Berlin bleiben wolle und wer seinen Eltern in seiner Abwesenheit auf dem Weingut helfe, zuckte er nur mit den Schultern. Als ob ihn das nichts anginge, verstehst du?«
»Dabei wird in einem Familienbetrieb doch jede Hand benötigt«, sagte Clara. »Wenn ich sehe, wie sich mein Vater in der Apotheke abrackert, wird mir ganz schlecht. Zu gern würde ich ihm helfen, aber wie? Einmal wieder eine Salbe anrühren. Oder Seife sieden …«
Josefine, die die Sehnsucht in Claras Stimme hörte, fragte: »Warum stellt ihr kein Kindermädchen für Matthias ein? Dann hättest du wieder mehr Zeit für die Apotheke. Ein junges Mädchen, das selbst aus einer großen Familie kommt und den Umgang mit einem Kleinen gewohnt ist – das kann doch nicht so schwer zu finden sein.«
»Um Gottes willen, wehe, ich würde Gerhard so einen Vorschlag unterbreiten! Er ist der Ansicht, dass es die Aufgabe einer Mutter ist, sich selbst um ihre Kinder zu kümmern. Frauen, die das nicht tun, sind in seinen Augen Rabenmütter. Und irgendwie hat er ja recht damit …« Die Freundin verzog unglücklich das Gesicht. »Außerdem habe ich ja noch die ganze Hausarbeit. Und die Abrechnungen für die Praxis – das alles geht vor.«
Josefine, die keinen Streit mit Clara anfangen wollte, schwieg.
»Jedenfalls«, hob sie nach kurzer Pause wieder an, »bin ich sehr gespannt, wie es mit Isabelle und Leon Feininger weitergeht.«
Clara legte eine Hand auf Josefines Arm. Mit ernstem Blick sagte sie: »Wenn es sich ergibt, dann richte Isabelle einen Rat von mir aus. Sie soll sich gut überlegen, was sie tut. Denn am Ende muss jeder in dem Bett, das er sich gemacht hat, auch liegen.«
27. Kapitel
»Liebe Radfahrerinnen, liebe Radfahrer – es ist mir eine große Freude, euch die dänische Berufsradfahrerin Susanne Lindberg vorstellen zu dürfen!« Aufgeregt schaute Irene Neumann in die versammelte Runde, die daraufhin lauten Beifall klatschte.
Wie gut, dass Irene darauf beharrt hatte, den Vortrag in die großzügigeren Räumlichkeiten der Männerriege zu verlegen – auch wenn die Dänin eigentlich hauptsächlich zu den Damen sprechen wollte, dachte Josefine. Das Vereinsheim der Männer war bis auf den letzten Stuhl besetzt, mehr noch, es herrschte drangvolle Enge, da sich außer den Damen auch viele Herren eingefunden hatten. Während Jo auf ihrem Stuhl hin und her rutschte, um auf der einen Seite einem Ellenbogen und auf der anderen einem Schubs auszuweichen, drängte sich Isabelle noch näher an Leon heran. Augenbrauen wurden missfällig hochgezogen, aber es gab auch ein paar neckische Kommentare – die Liebelei, die sich zwischen dem Radler-Vagabunden und der Unternehmertochter entsponnen hatte, war inzwischen Gesprächsstoff im ganzen Verein.
»Susanne Lindberg ist fünfundzwanzig Jahre alt und Mitglied im sehr renommierten Dänischen Fahrradverein«, fuhr Irene mit der Vorstellung des Gastes fort. »Sie hat ihr Studium der Kunst und Malerei abgebrochen, um sich ganz dem Radfahren widmen zu können, und das tut sie mit großem Erfolg: In den letzten Jahren ist sie fast alle Rennen zusammen mit der männlichen Konkurrenz gefahren, die es gibt – es würde die uns zur Verfügung stehende Zeit sprengen, wenn ich all ihre Erfolge aufzählen wollte.« Irene warf Susanne Lindberg einen bewundernden Blick zu. »Lasst mich beispielhaft nur das renommierte ›Star Race‹ des Dänischen Fahrradvereins nennen, bei dem Susanne letztes Jahr unter fünfundzwanzig Teilnehmern den fünften Platz belegt hat. Sie ist eine wahre Grande Dame des weiblichen Velosports und trägt durch ihre Erfolge sehr zur besseren allgemeinen Akzeptanz unseres Sports bei. Liebe Susanne …« Sie winkte den Gast zu sich auf die improvisierte Bühne, die aus ein paar zusammengenagelten Holzkisten bestand.
Eine
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