Solang die Welt noch schläft (German Edition)
dir das an«, sagte sie zu Josefine und begann vorzulesen: »Noch vor wenigen Jahren gebot es der Anstand, dass eine Frau nicht ohne Anstandsdame oder männlichen Verwandten aus dem Haus ging. Inzwischen jedoch radeln die Mannweiber mutterseelenallein durch die Welt und pflegen einen allzu freien Umgang mit dem anderen Geschlecht. Und der Herr Papa? Und die Frau Mama? Die schauen zu, wie sich das liebe Töchterlein ihren sexuellen Perversionen hingibt. Meine Ansicht zu solch Erziehungsberechtigten lautet: Sie sind selber krank und bedürfen der Erziehung!«
»Das gibt’s doch nicht!«, rief Josefine entsetzt. »Sexuelle Perversionen? Der Mann ist verrückt. Der Einzige, der wirklich pervers ist, ist er selbst!« Sie riss Isabelle das Magazin aus der Hand. »Wenn das Luise und Gertrude sehen …«
Gleichgültig schaute Isabelle die Freundin an. Während die anderen sich bei jedem Artikel dieser Art fürchterlich aufregten und sich die Haare darüber rauften, welche Gegenmaßnahmen man ergreifen könnte, fand sie die Schmierereien nur noch lächerlich. Kein vernünftiger Zeitungsleser schenkte so etwas Glauben, mehr noch, mit solchen Aufsätzen deklassierte sich jeder Mediziner selbst. Denn bisher hatte niemand »Beweise« für diese hanebüchenen Behauptungen erbracht, jeder Artikel basierte auf vagen Vermutungen, die mit Wissenschaft und Forschung nichts zu tun hatten. Deshalb stand Isabelle auch über diesen Artikeln. So wie sie über den meisten Dingen stand.
Nichts Neues also … Weder in den Zeitschriften noch in ihrem Leben. Isabelle hob ihren Blick und starrte an die Wand. Manchmal glaubte sie vor Langeweile und Ödnis umkommen zu müssen.
Dabei hatte alles so gut ausgesehen. In der ersten Zeit nach Adrians Abreise hatte sie nichts als Erleichterung verspürt. Endlich war sie wieder frei! Isabelle genoss es, auf Bällen, Empfängen und Gesellschaften wieder im Mittelpunkt zu stehen, sie genoss es, endlich wieder Komplimente zu bekommen, Schmeicheleien zu hören, sie flirtete und tanzte die halben Nächte hindurch.
Dass Adrian sie im letzten Moment »sitzengelassen« hatte, darüber wurde natürlich überall, wo sie auftauchte, getuschelt. Doch durch ihre leichtherzige Art, damit umzugehen, hatte sie den Spöttern schnell den Wind aus den Segeln genommen. Allzu sehr schien die versetzte Braut nicht zu leiden, mussten sie feststellen.
Ihr Vater hingegen hatte getobt und geschrien wie noch nie, so dass die Angestellten des Hauses erschrocken in ihre Kammern geflüchtet waren. Nach außen hin machte der Fabrikant jedoch gute Miene zum bösen Spiel und behauptete sogar, dass er der Verbindung stets eher skeptisch gegenübergestanden hätte.
Isabelle wurde schlecht, wenn sie an die Auftritte ihres Vaters dachte. Denn ihr war klar, dass er im Stillen längst nach einem neuen Heiratskandidaten Ausschau hielt. Und dann würde das elende Spiel von vorn losgehen. Aber nicht mit ihr, dachte sie grimmig.
»Das ist aber seltsam«, murmelte Josefine vor sich hin. »Adrian wollte doch an der Ostküste hinabfahren.«
»Ja und? Tut er das nicht?«, fragte Isabelle in gleichgültigem Ton.
Josefine tippte mit dem Zeigefinger auf die Weltkarte. »Laut seinen Postkarten fährt er quer durch Amerika! Von Ost nach West sozusagen.« Ihr Gesicht war sorgenvoll verzogen, als sie sagte: »Was hat das zu bedeuten?«
Die Tür ging auf, und Isabelle kam um eine Mutmaßung herum.
Im Türrahmen stand ein Mann. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Seine Haare waren dunkelbraun, lockig und hingen ihm verwegen bis über die Schulter und ins Gesicht. Auch seine Augen waren braun und von dichten Wimpern umrahmt. Der Mann sah unglaublich gut aus, abenteuerlich, irgendwie tollkühn … Als ob er vor nichts und niemandem zurückschreckte. Er war nicht übermäßig groß, besaß breite Schultern, kräftige Unterarme und noch kräftigere Radfahrerwaden, die so staubig waren, als hätte der Mann eine lange Velofahrt hinter sich. Darauf deutete auch der Rucksack hin, den er auf dem Rücken trug und gerade abnehmen wollte. Doch als er das fast leere Vereinsheim wahrnahm, wollte er die Tür schon wieder hinter sich zuziehen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Isabelle so hastig, dass sie sich fast dabei verschluckte. Unwillkürlich richtete sie sich auf ihrem Stuhl auf.
»Ich habe gehört, dass man hier in Berlin gut Rad fahren kann«, sagte der Mann in einem Dialekt, den sie nicht kannte. »Mein Name ist Leonardo Feininger, aber alle
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