Solang die Welt noch schläft (German Edition)
gutaussehende und sehr zierliche Frau stieg auf das Podest – Josefine schätzte, dass sie höchstens fünfundvierzig Kilogramm wog.
»Meine Damen, meine Herren, es ist mir eine Ehre, hier vor euch sprechen zu dürfen«, ergriff die Frau in sehr gutem Deutsch das Wort. Sie hatte weißblonde Haare, hellblaue Augen, einen leicht gebräunten, gesund wirkenden Teint und entsprach in ihrem Äußeren genau der Vorstellung, die man von einer Nordländerin hatte. Ihre Ausstrahlung war positiv und kraftvoll, und binnen kürzester Zeit hingen alle im Raum an ihren Lippen.
»Sowohl dem ersten Berliner Veloverein für Damen als auch dem ersten Berliner Velozipeden-Verein für Herren wird ein äußerst guter Ruf nachgesagt – die Qualitäten eurer Fahrer haben sich längst über die Grenzen des Deutschen Kaiserreichs hinaus herumgesprochen.«
Die Vereinsmitglieder bedankten sich für das Lob, indem sie mit den Knöcheln ihrer rechten Hand auf die Tische klopften.
»Ich weiß, dass Radfahrer keine großen Umwege schätzen«, sagte Susanne Lindberg und lächelte ihr Publikum komplizenhaft an, »deshalb komme ich direkt zum Anlass meines Besuchs.« Sie machte eine kleine Kunstpause, in der sie einen Mann, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, zu sich nach vorn bat.
»Darf ich vorstellen: mein Verlobter Charles Hansen. Einigen von euch dürfte er als Radfahrer bekannt sein. Derzeit ist er mit einer Untersuchung beschäftigt, die er im Auftrag des dänischen Staates durchführt. Gegenstand der Untersuchung sind die positiven Auswirkungen von Sport auf den menschlichen Körper und Geist.«
»Solch eine Untersuchung müsste der Kaiser auch mal anordnen«, flüsterte Josefine Isabelle zu. Sogleich drehten sich einige Köpfe zu ihr um, und sie wurde aufgefordert, still zu sein.
»Im Rahmen seiner Untersuchungen ist Charles auf eine Idee gekommen, die ich voll und ganz unterstütze – mehr noch, ich trage sie zu hundert Prozent mit!« Der Blick, mit dem Susanne Lindberg ihr Publikum an dieser Stelle bedachte, duldete weder Widerworte noch Einwürfe. »Charles möchte im Frühjahr 1897 ein Langstreckenrennen für Frauen durch Dänemark organisieren. Mit diesem Rennen wollen wir beweisen, dass Frauen mindestens so gut Fahrrad fahren können wie die Herren. Und zweitens wollen wir zeigen, dass der weibliche Körper nicht darunter leidet, ganz im Gegenteil, wir wollen beweisen, zu welchen körperlichen Höchstleistungen auch eine Frau fähig ist!«
Nun waren es die Frauen, die Beifall klatschten, während die Männer stirnrunzelnd dasaßen.
»Das ist ja eine großartige Sache!«, rief Josefine laut. »So etwas müsste es bei uns auch geben! Das würde den Schmierfinken, die ständig gegen unseren Sport wettern, den Wind aus den Segeln nehmen.«
»Wie lang soll denn euer Langstreckenrennen sein?«, rief Leon. »Für mich hat ein Langstreckenrennen mindestens die Dimensionen von Paris – Brest – Paris oder Bordeaux – Paris – ich schätze, da könnt ihr nicht mithalten, oder?«
Ein paar beifällige Lacher waren ihm durch diese Bemerkung sicher.
Doch das Lachen verstummte, als Susanne sagte: »Unser Rennen wird uns zweimal quer durch ganz Zealand führen, das ist die größte dänische Insel. Auf Deutsch heißt sie übrigens Seeland. Insgesamt werden wir eintausend Kilometer zurücklegen, das Zeitlimit setzen wir auf vier Tage fest, ich schätze jedoch eher, dass die Fahrt in drei Tagen zu schaffen sein müsste.«
»Tausend Kilometer in drei Tagen?«
»Das gibt’s doch gar nicht …«
»So eine weite Strecke auf dem Fahrrad?«
»Ein Frauenrennen?«
»… schaffen die niemals …«
»So was ist doch Männersache!«
Tumult brach im Saal aus, weil alle durcheinanderredeten. Susanne Lindberg und ihr Verlobter verharrten vorn auf der Bühne und schmunzelten.
Josefine ging im Geiste die längsten Strecken durch, die sie auf dem Velo schon zurückgelegt hatte. Hundert, höchstens hundertzwanzig Kilometer dürften es gewesen sein, die sie an Adrians Seite bewältigt hatte. Tausend Kilometer? Was für eine Herausforderung!
Es war Irene, die die aufgeregte Mannschaft schließlich wieder zur Räson brachte, indem sie laut rief: »Interessiert euch denn gar nicht, warum Susanne uns das alles erzählt?«
Sogleich wurde es zunehmend ruhiger im Saal.
Die zierliche Dänin räusperte sich, dann sprach sie mit ihrer leisen, aber eindringlichen Stimme weiter: »In Dänemark gibt es inzwischen einige sehr patente
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