Solang die Welt noch schläft (German Edition)
nennen mich nur Leon. Man kennt mich.«
Seine Stimme klingt wie warmer Honig, dachte Isabelle entzückt. Seltsam, seit er im Raum war, hatte sie das Gefühl, die Wände wären enger zusammengerückt.
Hinter sich hörte sie Josefine schnauben. »Der ist aber ganz schön von sich eingenommen«, raunte die Freundin ihr ins Ohr und setzte sich zu ihr an den Tisch.
Isabelle warf Jo einen abweisenden Blick zu. Hatte sie nicht mit ihrer Landkarte zu tun?
Leon Feininger … Irgendwo hatte sie den Namen tatsächlich schon gehört. Sie strich sich eine rote Locke aus der Stirn und sagte: »Sie sind hier genau richtig! Unser Verein ist der beste von ganz Berlin. Unsere Rennfahrer sind bei allen großen Rennen vertreten, meist auf den vorderen Rängen. Und wir haben sogar eine sehr erfolgreiche Damenriege.« O Gott, wie hörte sich das denn an? Als ob sie ihm imponieren wollte! Isabelle spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Bestimmt hielt der Mann sie für eine dumme Pute.
»Eine eigene Damenriege, aha. Und die besteht aus euch zweien?« Leon Feiningers Brauen hoben sich spöttisch.
Isabelle schüttelte lahm den Kopf. Sie fühlte sich wie in Watte gepackt.
»Natürlich nicht! Außer uns gibt es noch viel mehr weibliche Mitglieder«, antwortete Josefine ruppig. »Aber wie es sich für einen guten Veloverein gehört, sind alle beim Training. Welches wir zwei für heute jedoch schon hinter uns haben, nicht wahr, Isabelle?«
Isabelle, die sich inzwischen wieder etwas gefangen hatte, blickte auf den Rucksack. »Sie scheinen weit gereist zu sein – darf ich Sie zu einer Erfrischung einladen?« Sie wies auf den ihr gegenüberstehenden Stuhl. »Vielleicht haben Sie ja Lust, mir bei einer Tasse Kaffee zu erzählen, warum man Sie kennen sollte.« Mit einem gekonnten Augenaufschlag schenkte sie ihm ihr charmantestes Lächeln.
Leon Feininger wollte keinen Kaffee. Er verlangte nach einem Glas Rotwein, an dem er erst ausgiebig roch, bevor er es in einem Zug leer trank. Als das zweite Glas vor ihm auf dem Tisch stand, begann er in seinem Dialekt zu erzählen.
Er war der Sohn eines Pfälzer Winzers. Doch aus der Pfalz sei er einfach abgehauen, weil er dort keine Chancen mehr für sich sah, im Radsport weiterzukommen. In Berlin, so habe er gehört, seien nicht nur viele Rennfahrer, sondern auch viele Langstreckenfahrer zu Hause. Hier wollte er sich mit den Besten messen, hier wollte er eine neue Herausforderung finden, sie vielleicht sogar erfinden .
Isabelle hing wie gebannt an seinen Lippen. Wie er erzählen konnte … Im nächsten Moment erschien vor ihrem inneren Auge die Fotografie eines Radfahrers, der verschmitzt grinsend und in Siegerpose sein Velo in die Höhe hielt.
»Ich weiß, wer du bist!«, schrie sie unvermittelt – dass sie vom Sie zum Du gewechselt war, fiel ihr gar nicht auf. »Ich habe in der Zeitung über dich gelesen! Der Schreiber nannte dich den ›Helden der Landstraße‹. Du bist …« Sie fuchtelte mit ihrer rechten Hand in der Luft herum, als wollte sie die Worte von dort einfangen. »Du bist mit dem Velo über die Alpen bis nach Italien gefahren. Und … bist du nicht auch derjenige, der einst von Wien nach Berlin geradelt ist? In einer unglaublichen Zeit!«
»Es gab nicht nur einen Zeitungsartikel über diese Fahrten, es gab Dutzende.« Leon lächelte selbstgefällig. »Aber das war auch kein Wunder. Schließlich habe ich die Strecke von Wien nach Berlin in einunddreißig Stunden zurückgelegt, das war die Hälfte der Zeit, die der damalige offizielle Rekordhalter, ein Offizier mit Pferd, dafür benötigt hat.«
»Tatsächlich?«, sagte Josefine und rückte näher. »Das ist aber interessant. Wann war denn das?«
Isabelle hätte der Freundin am liebsten einen Schubs verpasst. »Wolltest du nicht noch Clara besuchen gehen?«, zischte sie. Eigentlich hatten sie gemeinsam die junge Mutter aufsuchen wollen – der Zeitpunkt war günstig, da ihr schrecklicher Ehemann bei einem Ärztekongress weilte, doch davon konnte nun keine Rede mehr sein. Eilig wandte sie sich wieder ihrem aufregenden Gast zu.
»Mein letztes Abenteuer, mit dem ich wieder in aller Munde war, war das Rennen von Paris nach Brest. Natürlich fuhr ich in der Siegergruppe ein.«
»Paris – Brest«, hauchte Isabelle atemlos.
»Und nun bin ich hier. Auf der Suche nach neuen Abenteuern.« Leon beugte sich zu ihr über den Tisch. Spielerisch nahm er ihre Hand, drehte sie so, dass er ihren Ringschmuck sehen konnte. Isabelle
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