Solang die Welt noch schläft (German Edition)
sieht gut aus, ist sympathisch, ein verrückter Kerl! Aber wohin soll das führen? Dein Vater wird doch nie und nimmer in eine Heirat mit ihm einwilligen, oder?« Ihr fiel Claras Spruch von dem Bett ein, in dem man liegen müsse, nachdem man es sich gemacht habe. Nein, so altklug wollte sie nun doch nicht klingen.
»Du hörst dich schon an wie Irene«, sagte Isabelle verdrießlich. »Der passt es auch nicht, dass ich mich mit Leon treffe. ›Kaum ist Adrian fort, wirfst du dich einem andern an den Hals!‹ , hat sie mir am letzten Samstag vorgeworfen, ist das nicht eine Unverschämtheit?«
Josefine zuckte vage mit den Schultern. Ganz unrecht hatte Irene ja nicht …
»Sie ist eben ihrem Bruder gegenüber sehr loyal, das ist doch ein schöner Charakterzug«, sagte sie. »Vielleicht macht sie sich auch Sorgen, dass du vor lauter Verliebtheit das Training vernachlässigst? Immerhin haben wir alle ein großes gemeinsames Ziel vor Augen.«
»Ist euch vielleicht schon einmal der Gedanke gekommen, dass Liebe auch beflügeln kann?«, fragte Isabelle und strahlte Josefine über den Teller hinweg an. »Ach Jo, du machst dir viel zu viele Gedanken! Weißt du, wenn man verliebt ist – nein, ich muss es anders sagen: Wenn man liebt , sieht die Welt plötzlich ganz anders aus. Rosig, so, als wäre sie mit einem Zuckerguss überzogen. Ich bin der festen Überzeugung, dass alles gut werden wird. Im Frühjahr fahren wir ein grandioses Rennen und zeigen der ganzen Welt, was in uns Frauen steckt. Und was Leon und mich angeht – auch da wird sich alles fügen«, fügte sie hinzu. Sie tätschelte gönnerhaft Josefines Hand. »Warte nur ab, wenn dich erst einmal Amors Pfeile treffen, wirst du meine Zuversicht nachvollziehen können.«
Wenn du wüsstest, dachte Josefine. Als Adrians Telegramm vor zwei Tagen gekommen war, hätte sie die ganze Welt umarmen können!
Alles gut. Auftrag erfolgreich erledigt. Freue mich auf zu Hause und auf die Zukunft. Adrian. Noch nie hatte eine Nachricht schöner in ihren Ohren geklungen.
»Du hast recht«, sagte sie mit weicher Stimme. »Bestimmt wird alles gut werden. Ich gönne es dir jedenfalls von Herzen.«
Sie hatten ihre Teller gerade leer gegessen, als es an der Tür klopfte.
Es war der Postbote. Er brachte abermals ein Telegramm.
»Von Adrian? Für dich ?« Nicht nur Isabelles Stimme, sondern auch ihre Miene war ein einziges Fragezeichen. »Wieso schreibt er nicht an den Verein? Und warum ein Telegramm und keine Postkarte?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte Jo verlegen. »Vielleicht weil ich immer zu Hause bin und es annehmen kann …« Am liebsten hätte sie das Schreiben zur Seite gelegt und mit dem Lesen gewartet, bis Isabelle gegangen war. Aber das ging nicht. Mit zitternder Hand ritzte Josefine den Umschlag auf.
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, entriss Isabelle ihr den Umschlag.
»Zeig mal her, was unser Herr Amerikafahrer zu berichten hat!« Schon heftete sich ihr Blick auf das Geschriebene.
Kreideweiß und mit Augen, in denen Entsetzen zu lesen war, ließ sie das dünne Blatt Papier nur einen Moment später sinken.
»O Gott …«
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer bei den Vereinsmitgliedern: Ein Überfall auf einer einsamen Landstraße. Eine Schussverletzung. Ein Knie schwer verletzt. Und das ausgerechnet auf der Heimreise! Nur durch eine glückliche Fügung hatte eine Farmerfamilie, die wie Adrian vom Weg abgekommen war, ihn spätnachts gefunden. Sie hatten ihn auf ihren Karren gehievt und nach Chicago in ein Krankenhaus gebracht, wo sich Ärzte um sein verwundetes Knie kümmerten. An eine Weiterreise sei vorerst leider nicht zu denken.
Eine Knieverletzung. Ärgerlich, gewiss, aber zum Glück war nicht mehr passiert, lautete die allgemein vorherrschende Meinung, der sich Josefine zwar anschloss, die jedoch nicht die ganze Bandbreite ihrer Gefühlswelt widerspiegelte. Wie schlimm war die Knieverletzung? Warum ließ Adrian die Wunde nicht einfach verbinden und machte sich dann per Eisenbahn auf den Heimweg? Hatte er dafür zu große Schmerzen? Wenn ja, was taten die Ärzte dagegen? Und wann würde er wieder reisefähig sein?
Wenn sie bloß gewusst hätte, in welchem Krankenhaus er lag, dann hätte sie ihm schreiben können! Lange, ausführliche Briefe, die ihm die Zeit vertrieben und ihn aufmunterten. So blieb Josefine nichts anderes übrig, als ihm gute Gedanken zu schicken und zu hoffen, dass sie irgendwie bei ihm ankamen.
Sie vermisste ihn so sehr!
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