Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Holzes in Isabelles Leib. Hoffentlich werde ich nicht gleich wieder krank, dachte sie dumpf.
»Hast du schon einmal von Otto Ekarius gehört?«
Isabelle verneinte. Wenigstens war Leon nun nicht mehr ganz so aufgebracht, dachte sie erleichtert.
»Ekarius ist Kantonalarzt im Elsass. Weiß der Himmel, was ihn dazu gebracht hat, die Wirkungsweise von so fremdartigen Gewächsen wie Cola und Coca zu untersuchen, vielleicht hatten seine Soldaten ein bisschen Aufputschen nötig.« Er lachte über seinen Scherz. »Jedenfalls hat dieser Arzt aus den Colablättern und der Cocapflanze verschiedene Präparate kreiert, die es inzwischen schon in vielen guten Apotheken zu kaufen gibt. Ein kleines Schlückchen Saft, dazu ein paar kleine Pillen – und schon fühlst du dich so gut wie lange nicht mehr. Du bist so leistungsfähig, dass du es selbst kaum glauben kannst. Müdigkeit verspürst du fast gar nicht mehr, ja, man muss sich zum Aufhören regelrecht zwingen! Ich sage dir, das ist kein Teufelszeug, sondern ein Geschenk des Himmels. Hier, probier mal!« Aufmunternd hielt er ihr seine offene Hand hin.
Unsicher starrte Isabelle auf die weißen Tabletten. War das die Lösung?
»Aber was nutzt es mir, wenn ich das Zeug jetzt nehme? In Dänemark steht uns so etwas bestimmt nicht zur Verfügung, und dann?«
»Das werden wir sehen«, erwiderte Leon lässig. »Außerdem – jetzt ist jetzt und nicht später. Also los, nun mach schon, du bist doch sonst auch kein Hasenfuß!« Er lachte spöttisch auf. »Oder habe ich mich etwa in dir getäuscht?«
Hastig griff Isabelle zu und stopfte sich fünf Tabletten auf einmal in den Mund. Sie schmeckten ein wenig bitter und rutschten nur schwer ihre Kehle hinab.
»Und nun?«
Leon grinste. »Nun fahren wir Rad, was sonst?«
30. Kapitel
Der 1. Mai 1897 war ein ganz besonderer Tag. Zumindest für fünf junge Frauen, die sich am Bahnhof versammelt hatten, um gemeinsam dem Abenteuer ihres Lebens entgegenzufahren: Josefine und Isabelle, Irene Neumann und Luise Karrer, und Lilo, die schon Anfang März nach Berlin gekommen war, um gemeinsam mit den anderen zu trainieren.
Im Gegensatz zu ihrem Vater hatte Lilo es Josefine nie übelgenommen, dass sie das Haus von Frieda geerbt hatte, sie hatte Josefine vielmehr zu der glücklichen Fügung von Herzen gratuliert. Fortan standen sie in einem regelmäßigen Briefwechsel. Nicht nur Josefine, sondern auch Isabelle und Clara waren erstaunt gewesen zu erfahren, wie sich das Leben der jungen Schwarzwälderin in den letzten Jahren gewandelt hatte. Denn kurz nachdem sie eine Lehrstelle zur Krankenschwester in dem neu erbauten Schömberger Luxussanatorium angetreten hatte, verliebte sie sich in dessen Besitzer. Die Heirat folgte auf dem Fuße, und fortan war Lilo eine wohlhabende Ehefrau, die über genügend Zeit verfügte, ihren Interessen – allem voran natürlich das Radfahren – zu frönen. So hatte Lilo schon im Jahr 1895 an einem Sechstagerennen in Paris teilgenommen, ein Jahr später, als Damenrennen in Deutschland verboten wurden, war sie bei der ersten offiziellen Weltmeisterschaft für den Damen-Radsport in Belgien dabei. Außerdem war sie diverse Rennen in Frankreich und Österreich gefahren. Ihr Mann finanzierte Lilos Unternehmungen mit Freude, mehr noch, im Speisesaal seines Sanatoriums widmete er sogar eine ganze Wand Lilos sportlichen Erfolgen: Zeitungsberichte, Starterpapiere, Siegestrophäen – das Sammelsurium an Radsport-Memorabilia wuchs von Jahr zu Jahr. So war es nicht verwunderlich, dass Josefine im Zusammenhang mit dem großen Dänemarkrennen sofort eingefallen war, Lilo um die Teilnahme zu bitten.
Als Susanne Lindberg gehört hatte, um wen es sich bei der fünften deutschen Fahrerin handelte, war sie höchst erfreut gewesen. Lilo Ofterschwang – so hieß sie nach ihrer Vermählung – war in ganz Europa als sehr erfahrene und faire Rennsportlerin bekannt. Was für eine Bereicherung für die bevorstehenden tausend Kilometer!
Familie, Freunde, Ehemänner und Vereinsmitglieder – alle waren gekommen, um die Radfahrerinnen zu verabschieden. Sogar mehrere Herren von der Presse waren da, was allerdings vor allem der Teilnahme von Leon Feininger und Veit Merz an dem Rennen geschuldet war. Die beiden berühmten Rennfahrer gaben eifrig Interviews, die Presseleute schrieben ebenso eifrig mit. In einem Nebensatz würden sie bestimmt auch über den Hauptgrund des Rennens berichten – Frauen, die einen Streckenrekord aufstellen
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