Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Mit jedem Tag, den er länger fort war, wurde ihre Sehnsucht stärker. Sie hatte ihm so viel zu erzählen, dass sie dafür wahrscheinlich Jahre benötigen würde. Allein die Berichte über ihr Training, das wirklich unbarmherzig war, würden Stunden füllen.
Jeden Morgen, pünktlich um fünf Uhr, schwang sie sich für zwei Stunden aufs Rad und fuhr im trüben Schein der Gaslaternen durch die erwachende Stadt. Über die Prachtstraßen führte ihr Weg, quer durch Industrieviertel, durch elegante Wohngegenden und durch heruntergekommene Arbeitersiedlungen. Sie nutzte jede Steigung, die sie finden konnte, für ein Bergtraining. Und sie übte schnelles Fahren auf den ebenen, breiten Straßen. Hinaus aufs Land würde sie wegen der Dunkelheit leider erst wieder im Frühjahr fahren können.
Nach dieser ersten Trainingseinheit machte sie sich zu Hause frisch und aß ein kräftigendes Morgenmahl – Susanne hatte gesagt, sie sollten auf eine gesunde Ernährung achten. Dann ging sie in ihre Werkstatt, wo sie bis mindestens sechs Uhr am Abend arbeitete. Zu tun hatte sie mehr als genug: Viele Velofahrer, die nur in der warmen Jahreszeit fuhren, brachten nun ihre Räder zu ihr, damit Jo sie von Grund auf reinigen und auf Vordermann bringen konnte. Die Arbeit machte ihr Spaß, war aber auch anstrengend. Doch statt sich abends auf die faule Haut zu legen, wie sie es manchmal gern getan hätte, folgte die nächste Trainingseinheit. An manchen Tagen lief diese gut, an anderen weniger gut. Susanne hatte gemeint, dass es auf regelmäßiges und ausdauerndes Training ankäme und nicht darauf, irgendwelche Strecken in Rekordzeiten zurückzulegen. Tausend Kilometer auf dem Rad seien kein Pappenstiel, man brauche schon eine hervorragende Kondition dafür. Und die bekäme man nur durch tausendundeine Stunde auf dem Rad.
Am Samstagnachmittag und am Sonntag trafen sich die Fahrerinnen, die mit nach Dänemark wollten, meist am Vereinsheim, um in wechselnden Konstellationen längere Touren zu unternehmen. Manchmal fuhren sie zu viert, andere Male nur zu zweit oder zu dritt. Die Fahrten mit Irene und Luise Karrer empfand Josefine als langweilig und anstrengend, denn beide Frauen fuhren stets mit stur geradeaus gerichtetem Blick dahin – Gespräche kamen mit ihnen nicht auf. Deshalb fuhr Josefine am liebsten mit Isabelle, zu zweit, wie in früheren Zeiten.
Jo nutzte die gemeinsamen Ausfahrten auch dazu, um diskret den Trainingszustand der anderen zu prüfen, denn was die gefahrenen Stunden auf dem Rad anging, waren sowohl Isabelle als auch Luise Karrer eindeutig im Vorteil. Da beide nicht arbeiteten, konnten sie tagsüber fahren, wann und wie lange sie wollten. Irene hingegen, die seit Adrians Abreise im väterlichen Unternehmen mitarbeitete, musste wie Josefine schauen, woher sie die Zeit zum Trainieren nahm. Dass die arrogante Irene für ihren Bruder einsprang, machte sie in Josefines Augen um einiges sympathischer. Überhaupt gefiel ihr Adrians Schwester immer besser: Ganz gleich, wie hart das Training war, ganz gleich, ob es wie aus Kübeln schüttete oder ein eisiger Ostwind sie fast vom Rad wehte – Irene jammerte so gut wie nie.
Leon Feininger und Veit Merz, Chloés Ehemann und Berufsrennfahrer, waren sozusagen Tag und Nacht auf dem Rad, was wiederum Isabelle ärgerte. Sie wollte mehr Zeit allein mit Leon verbringen. Als sie ihm ihre Bitte vortrug, sagte er ungerührt, dass sie gern mit ihm fahren könne.
All das und noch viel mehr hätte Josefine Adrian geschrieben, wenn sie eine Adresse gehabt hätte. Stattdessen musste sie sich damit begnügen, am Heiligen Abend eine Kerze ins Fenster zu stellen. An die Kerze lehnte sie die Postkarte, die er ihr geschickt hatte. Auf der Vorderseite stand in großen geschwungenen Lettern »Merry Christmas«, darunter war ein Mistelzweig abgebildet, mit silbernem Glitzerpulver verziert. Die Karte war wunderschön, doch wichtiger war Josefine die Rückseite. »Alles wird gut, auch wenn es ein wenig länger dauert «, hatte Adrian geschrieben. Nicht gerade ein Liebesschwur, aber Adrian wusste schließlich, dass in Josefines Haus etliche Vereinsmitglieder ein und aus gingen und die Karte jederzeit in fremde Hände gelangen konnte. Alles wird gut, auch wenn es ein wenig länger dauert – für Josefine klangen die Worte süßer als jedes Glockengeläut.
Den Januar konnte sich Isabelle Jahr für Jahr schönreden, stellte er doch eine Erholungsphase nach den anstrengenden Weihnachtsfeierlichkeiten
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