Solang die Welt noch schläft (German Edition)
hier! Aber er durfte nicht die Straße nehmen. Nur wohin? Mit einer abrupten Drehung schlug er sich samt Rad ins Gebüsch, den Oberkörper tief nach vorn gebeugt. Dornenzweige peitschten ihm ins Gesicht, einer erwischte sein linkes Auge. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei. Im nächsten Moment erreichte er freies Feld. Sein linkes Auge tränte unablässig, wie irre raste sein Blick durch die schwarze Nacht. Wohin? Wenn er bloß wüsste, wohin … Schon hörte er die schweren Schritte seiner Verfolger hinter sich näher kommen. Lautes Fluchen. »Stop, man!«, rief einer ihm nach. Anhalten? Damit sie ihn auf der Stelle umlegten? Adrian radelte noch schneller.
Der Schuss fiel ohne Vorwarnung. Er traf ihn von hinten in die Kniekehle seines linken Beins. Adrian hatte so viel Adrenalin im Blut, dass er einen Streifschuss hätte ignorieren und weiterfahren können. Doch das konische Geschoss der alten Wildererbüchse durchschlug sein Gelenk mit brutaler Wucht. Adrians Bein wurde vom Pedal fort und in die Luft geschleudert. Er fiel über sein Hinterrad und prallte mit dem Rücken auf etwas Hartem, einem Stein oder Ast, auf.
Ihm wurde schwarz vor Augen.
29. Kapitel
»Au, du hast mich gepikst!« Isabelle fuhr herum, als wäre sie nicht von einer Stecknadel, sondern von einer Tarantel gestochen worden.
»Nun hab dich nicht so«, lispelte Josefine ungerührt. Sie nahm eine der Stecknadeln, die sie zwischen die Lippen geklemmt hatte, und heftete am Rücken von Isabelles Jacke eine Tasche von ungefähr fünfzehn mal zwanzig Zentimeter Größe an. Als sie damit fertig war, zog sie einen der Küchenstühle heran und bat Isabelle, sich daraufzusetzen und sich nach vorn zu beugen.
»Stell dir nun vor, du sitzt auf deinem Velo – also nimm beide Hände vor dich. Und nun greif mit einer Hand nach hinten und versuche, den Knopf der Tasche zu öffnen.«
»Kein Problem«, sagte Isabelle schulterzuckend. »Ich kann die Tasche sogar einhändig wieder zuknöpfen, schau!« Sie sprang auf und gab Josefine einen raschen Kuss auf die Wange. »Du bist ein Schatz! Die Jacke ist wirklich toll geworden. In die Tasche passen ein paar belegte Brote, ein bisschen Obst und eine Tafel Schokolade. Somit können wir während der Fahrt essen, wann immer wir wollen, ohne absteigen zu müssen. Wir zwei werden die beste Radfahrkleidung von allen haben!«
Jo strahlte. Auch sie war nicht unzufrieden mit ihren Näharbeiten. »Vergiss nicht die beiden Brusttaschen, die ich noch zusätzlich aufgenäht habe. Darin kannst du ein Taschentuch und ein paar Karamellen verstauen. Ein Rucksack behindert dich beim Fahren jedenfalls wesentlich mehr, deshalb sind wir tatsächlich im Vorteil.«
Es sei wichtig, dass sie das Rennen alle zusammen in einer Art dezenter Einheitskleidung bestritten, hatte Susanne Lindberg ihnen erklärt. Jede solle für einen Hosenrock in einer dunklen Farbe sorgen, dazu für eine Jacke, ebenfalls in Dunkelblau, Schwarz oder Grau gehalten. Um den Hals sollten sie einen roten Schal tragen, welcher sie als Teilnehmerinnen des 1000-Kilometer-Rennens auswies – diesen Schal würde jede Teilnehmerin am Start in Kopenhagen von Charles Hansen ausgehändigt bekommen. Josefines Frage, ob sie statt des Hosenrocks nicht gleich eine Hose tragen könne, hatte Susanne Lindberg verneint. Man wolle die einfache dänische Landbevölkerung nicht unnötig schockieren, schließlich sei es wichtig, dass sie überall, wo sie auftauchten, einen guten Eindruck hinterließen.
Dagegen hatte Jo nichts einwenden können. Oft genug, wenn sie in Hosen aufs Rad stieg, wurde sie ausgelacht, angefeindet oder beschimpft. Doch inzwischen war es ihr gleichgültig. Sollten die Leute doch reden und denken, was sie wollten! Dass Susanne Lindberg als Veranstalterin der großen Dänemarkrundfahrt es jedoch gar nicht erst zu solchen Anfeindungen kommen lassen wollte, verstand sie sehr gut.
Wenn schon Rock und Jacke, dann aber bitte so praktisch wie möglich – so lautete ihre Devise fortan. Da sie in den Katalogen der großen Velobekleidungshersteller nichts Passendes gefunden hatte, beschloss sie, herkömmliche Kleidungsstücke selbst so umzuändern, dass sie sich für ihre Bedürfnisse eigneten. Eine Nähmaschine war im Kaufhaus Reutter schnell gekauft, und voller Begeisterung hatte sie sich ans Werk gemacht: die zusätzlichen Taschen, in die Ärmelbündchen ein Knopfloch und in Ellenbogenhöhe einen Knopf. Nun konnte sie die Jacke, wenn es ihr warm wurde, bequem
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