Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Schnarchen oder Stöhnen zu hören. Doch obwohl sich Josefine ausgelaugt fühlte wie noch nie in ihrem Leben, konnte sie nicht einschlafen. Ihre Augen tränten von den aufsteigenden Dämpfen der Teerfarbe, mit der sie drei Stunden lang Holzbretter eingestrichen hatte. Gern hätte sie sich danach die noch immer blutverkrusteten und nun auch noch teerbefleckten Hände gewaschen, doch auf ihre Bitte hin hatte die Wärterin ihr erklärt, dass es den Insassen nur morgens erlaubt war, sich zu waschen.
»Mangelnde körperliche Hygiene ist die Ursache vieler Krankheiten«, hörte sie plötzlich eine Stimme aus der Vergangenheit in ihrem Ohr. Josefine seufzte traurig. Wer hatte das gesagt? Einer der Ärzte im Schwarzwald, wo sie sich wegen ihres Lungenleidens aufgehalten hatte? Oder Clara mit ihrem Apothekerwissen?
Bevor sie etwas dagegen tun konnte, gesellten sich weitere Stimmen dazu: »Du hast doch nur noch deine Passion gesehen …« »Für mich hast du dich gar nicht interessiert!« »Ihr Jungen habt nur Dummheiten im Kopf.« »Mach was aus deinem Leben!« »Deine Einsicht kommt leider zu spät …« Claras, Isabelles und Friedas Worte huschten wie Fledermäuse durch ihren Kopf, und zwischendurch hörte sie auch Gerd Melchior etwas von Dummheiten reden.
»Deine Einsicht kommt leider zu spät« – wie bitter Isabelle diesen Satz zu ihr gesagt hatte.
Ruhelos warf sich Josefine von einer Seite auf die andere. Späte Einsicht – hatte sie diese überhaupt? Oder würde sie nicht alles genau so wieder tun? War nicht alles, was geschehen war, sogar eine logische Abfolge von Dingen, die gar nicht anders hatten passieren können? Oder machte sie es sich zu einfach, wenn sie so dachte?
Während ein blasser Mond durch die schmalen Gefängnisgitter schien, wanderten Josefines Gedanken zurück in die Vergangenheit.
4. Kapitel
Berlin, im Frühjahr 1889
»Sag ihr, sie soll mir nachher bei der Beerdigung bloß nicht unter die Augen kommen!« Mit zitternder Hand griff der Schmied-Schmied nach seiner Kaffeetasse, überlegte es sich dann anders und zog einen Flachmann aus der Hosentasche. Seine Frau öffnete den Mund zu einer Entgegnung, blieb jedoch stumm.
Josefine sog entsetzt die Luft ein. »Aber Vater, ich –«
Die große Pranke des Schmiedes donnerte zur Faust geballt auf den Esstisch. Wie ihre Mutter und ihre Schwestern zuckte auch Josefine zusammen.
»Und sag ihr, dass sie ihren Mund halten soll. Kein Wort will ich mehr von ihr hören.« Die Eiseskälte, die in seiner Stimme mitschwang, war schlimmer, als jedes noch so laute Brüllen es gewesen wäre.
Verzweifelt schaute Josefine zu ihren Schwestern. Die älteren Schmied-Mädchen waren wie der Rest der Familie schwarz gekleidet, beide hatten Regenschirme zurechtgelegt. Der Himmel weinte an diesem Frühlingstag. Gundel schaute sie ungerührt an, in Margrets Miene erkannte Josefine unverhohlene Feindseligkeit. Keine sagte etwas zu ihren Gunsten.
Elsbeth Schmied legte Josefine eine Hand auf die Schulter und führte sie aus der dunkel verhangenen Küche. »Geh in dein Zimmer.«
»Aber er war mein Bruder –« Ein Hustenanfall verschluckte ihre weiteren Worte.
»Daran hättest du denken sollen, als du dich wieder mal zu dem feinen Apothekerfräulein davongeschlichen hast. Hättest du auf Felix aufgepasst, wie wir es dir befohlen haben, wäre unser Junge noch am Leben!«
Während Josefines Familie Felix auf seinem letzten Gang begleitete, rannte sie selbst zu Frieda. Prasselnde Regentropfen mischten sich mit ihren Tränen und fielen auf ihre nachlässig verbundenen Hände. Unter den Stoffbahnen pochte das Fleisch heiß. Längst gehörte der Verband gewechselt, bei Brandwunden sei sorgfältige Pflege und Hygiene vonnöten, hatte Doktor Fritsche gesagt. Auch was wegen ihrer Rauchvergiftung zu tun war, hatte er der Mutter erklärt: Inhalationen mit Menthol, Eukalyptusöl oder einer hochverdünnten Kampferlösung. Elsbeth Schmied hatte genickt. Bisher hatte sich jedoch niemand zu Anton Berg aufgemacht, um die Medizin zu holen.
»Du bist schuld, du bist schuld – ich kann es nicht mehr hören«, sagte Frieda zu ihr, während sie den verschmutzten Verband von Josefines Händen löste. »Glaubst du wirklich, du bist Herr über Leben und Tod? Was geschehen ist, war Gottes Wille allein! Vielleicht hättest du an jenem Tag wirklich auf deine Eltern hören und bei Felix bleiben sollen. Aber dieser Ungehorsam ist der einzige Fehler, den du dir vorwerfen kannst. Genauso
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