Solang die Welt noch schläft (German Edition)
mit der Eisenbahn erreichbar sein. Entfernungen, die früher sowohl für Menschen als auch für Güter unendlich erschienen, schmelzen zu bloßen Strichen auf der Landkarte zusammen. Ein wahrer Segen!«
Josefine konnte dem nur zustimmen. Da saß sie, die bisher noch nie aus der Luisenstadt herausgekommen war, in einem Zugabteil und sah so viele unterschiedliche Landschaften an sich vorbeiziehen. Ein unbekanntes Hochgefühl, das nach Freiheit und Weite schmeckte, nach Aufbruch und Grenzenlosigkeit, machte sich in ihr breit. Schon hatte sie den Eindruck, ein wenig besser atmen zu können.
Hinter Nürnberg machte Oskar Reutter sie auf ein großes Gebäude aufmerksam. »Die Telegrafenutensilienfabrik des Herrn Joseph Obermaier. Hier wird an der Zukunft gebaut«, sagte der Unternehmer enthusiastisch. »Wir leben wahrlich in spannenden Zeiten!«
In Stuttgart trennten sich ihre Wege, nachdem der Kaufhausbesitzer, der in dieser Stadt seine Einkäufe tätigen wollte, Josefine zur Weiterfahrt in den richtigen Zug gesetzt hatte.
In Pforzheim, zwei Stunden später, endete auch Josefines Zugfahrt – weiter in den Schwarzwald hinein fuhr die Eisenbahn noch nicht, hatte Herr Reutter ihr erklärt und angefügt, dass vor dem Pforzheimer Bahnhof immer etliche Fuhrleute ihre Dienste anboten. Sie brauche also lediglich mit einem von ihnen ordentlich zu verhandeln, und schon würde er sie nach Schömberg fahren.
Eigentlich sahen die Schwarzwälder Fuhrleute keine Spur anders aus als die Burschen, die ihre Gäule zu ihnen in die Schmiede brachten, dachte Josefine. Dann lief sie beherzt auf einen der jüngeren Kutscher zu. Auf diesem Terrain kannte sie sich aus, und obwohl sie Mühe hatte, den Dialekt der Männer zu verstehen, wurde sie schnell mit einem handelseinig.
Mit jedem Kilometer, den sie tiefer in den Schwarzwald hineinfuhren, wurde die Landschaft hügeliger, der Weg steiniger und kurviger. Weiter als bis zur nächsten Kehre konnte man selten sehen, mal links und mal rechts ihres Wegs erhoben sich hohe Berghänge, dicht bewachsen mit Nadelbäumen. Die Wälder wirkten dunkel, geradezu düster. Wurde diese Gegend wohl wegen ihrer Düsternis »Schwarzwald« genannt? Einmal kamen sie an einer Mühle vorbei, deren riesiges Mühlenrad sich in einem rauschenden Wasserlauf drehte. Ein paar barfüßige Kinder standen am Uferrand und stocherten mit Stöcken im Wasser, als würden sie etwas suchen. Ein Stück weiter erfüllte plötzlich harziger Rauch die Luft. Die beiden Rösser prusteten und warfen ihre Köpfe so heftig hin und her, dass weiße Spucke auf ihre Leiber geschleudert wurde. Feuer! Josefine spürte, wie ihr Magen zu rumoren begann und die altbekannte Angst wieder in ihr aufstieg. Eilig presste sie ihren Jackenärmel gegen die Nase, um dem Geruch zu entkommen.
»Ein Köhlermeiler«, sagte der Kutscher und wies auf einen riesigen Kegel aus Hölzern, die mit Erde oder einem anderen Material abgedeckt waren. »Hier wird Holzkohle hergestellt, für die Glasbläser, die in der Gegend ansässig sind. Auch Gold- und Silberschmiede brauchen die Kohle, und so mancher Waffenschmied besorgt sie sich ebenfalls hier.« Die Stimme des Mannes klang stolz.
Bald darauf lichteten sich die Wälder, und der Weg schlängelte sich durch zwar ansteigendes, aber offenes Gelände. Erleichtert, dem Geruch des schwelenden Feuers und den düsteren Wäldern entkommen zu sein, schloss Josefine die Augen.
»Aufwachen, wir sind da.« Unsanft rüttelte der Kutscher an ihrem Arm. Dann ging er nach vorn zu den Pferden.
Einen Moment lang wusste Josefine nicht, wo sie sich befand. Es war inzwischen dunkel geworden, Straßenlaternen brannten. Beim Anblick der Fachwerkhäuser kam die Erinnerung schnell zurück. Schömberg. Die Kurstadt im Schwarzwald. Sie war angekommen.
Während sich der Kutscher daranmachte, ihren Koffer von der Ladefläche zu hieven, betrachtete Josefine das große Gebäude direkt vor ihr. »Gasthaus zum Hirschen« prangte in großen Lettern auf einem hölzernen Schild, welches direkt unter dem Giebeldach angebracht war. Darunter hing ein zweites Schild, es war aus Metall und wirkte wesentlich jünger als das erste. »Schömberger Luftkurhaus« stand darauf zu lesen. Das war also das Sanatorium, in dem sie ihren Husten loswerden sollte. Es sah recht einladend aus.
Interessiert schaute Josefine die Hauptstraße hinunter. Der Ort war wesentlich größer, als sie ihn sich ausgemalt hatte. Links und rechts von der Hauptstraße gingen
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