Solang die Welt noch schläft (German Edition)
dahin nicht einmal geahnt, geschweige denn mit eigenen Augen gesehen.
Isabelle fuhr sich mit der rechten Hand durch ihre rothaarige Lockenfülle. »Geld ist das eine. Viele betrachten meinen Vater jedoch immer noch als eine Art Schneiderlein, als Schürzenmacher . Jemand, der keinesfalls in der Liga der Großindustriellen zu sehen ist, zu der zum Beispiel die Krupps und Rothschilds gehören. Aber genau dort will er hin, und das Mittel zum Zweck bin ich.«
Josefine runzelte die Stirn. »Wie verbittert du dich anhörst … Ich dachte immer, du würdest all die Bälle und Einladungen genießen.«
»Du dachtest … Du hättest mich zur Abwechslung ja einmal fragen können, wie ich mich fühle.« Isabelle schaute von Josefine zu Clara. »Habe ich euch nicht oft genug erzählt, dass es auf diesen noblen Bällen zugeht wie auf einem arabischen Heiratsbasar? Dass ich wie ein Stück Vieh an den Meistbietenden verschachert werden soll, nehmt ihr gar nicht wahr. In euren Augen lebe ich ja im Himmel auf Erden …« Der beißende Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Josefine schaute betroffen auf ihre blutigen Hände. War sie wirklich solch eine schlechte Freundin gewesen? Selbstsüchtig. Verstrickt in ihr eigenes Tun und Denken. Immer nur an sich denkend. Es musste so gewesen sein.
»Verzeiht mir. Es tut mir alles so leid …«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.
Isabelle und Clara rutschten unruhig auf den harten Stühlen hin und her. Josefine räusperte sich.
»Ich will nicht unhöflich sein, aber … ich bin dem Hausmeister als Hilfskraft zugeteilt worden, und wahrscheinlich wartet er schon auf mich.« Ohne ein Wort des Abschieds, ohne Umarmung stürzte sie weinend aus dem Raum.
»Du sollst meine neue Gehilfin werden …« Prüfend wanderte der Blick des Hausmeisters von Jos Scheitel bis zu ihren Zehenspitzen. »Ein breites Kreuz hast du ja. Nun, wir werden sehen. Eigentlich ist es für heute schon zu spät, um noch eine neue Arbeit anzufangen. Aber wenn ich dich jetzt wegschicke, stecken sie dich in die Küche oder sonst wohin, und ich stehe morgen wieder ohne Gehilfen da. Sie können gehen, danke«, sagte er zu der Wärterin, die Jo zu ihm in den Hof gebracht hatte.
»Dann wollen wir mal!« Er schnappte den Handgriff seines Leiterwagens und wies Josefine an, ihm zu folgen.
Zögernd lief Josefine hinter dem Mann her. Auf den ersten Blick machte der Hausmeister, ein kahlköpfiger Mann mittleren Alters, einen freundlichen Eindruck. In seiner Art erinnerte er sie ein wenig an die Kutscher, die Tag für Tag ihre Gäule in die Hufschmiede brachten – die klopften zwar immer gern große Sprüche, aber unter ihrer rauen Schale verbarg sich meist ein weicher Kern.
An einem Schuppen hinter den Hauptgebäuden blieb der Mann stehen. »Ich bin Gerd Melchior.« Sein Händedruck war fest und angenehm. »Wenn du dich ordentlich verhältst und fleißig arbeitest, werden wir zwei gut miteinander auskommen. Wenn nicht …« Er ließ seinen Satz in drohendem Ton ausklingen.
»Josefine Schmied. Aber alle sagen nur Jo zu mir.«
»Von mir aus«, sagte Gerd Melchior. Im Schuppen kramte er kurz in einem Regal, dann reichte er Josefine einen Pinsel mit struppigen Borsten. Mit dem Kinn wies er auf einen Haufen Bretter, die in der Mitte des Schuppens auf einer Art Plane lagen. »Das wird die Umrandung für einen neuen Komposthaufen. Damit er nicht gleich im ersten Jahr fault, wird er mit einer schützenden Schicht gestrichen. Du tauchst den Pinsel in diesen Pott und streichst mit dem Goudron jedes Brett, und zwar sorgfältig. Ich will keine hellen Flecken sehen, hast du mich verstanden?«
»Goudron? Ist das nicht ganz normaler Teer?«, fragte Josefine und rümpfte die Nase bei dem altbekannten beißenden Geruch, der aus dem Farbtopf aufstieg.
Der Hausmeister schaute sie erstaunt an. »Stimmt, das ist dasselbe. Aber woher kennst du überhaupt Teer?«
Jo lächelte. »Mein Vater ist Hufschmied, ich habe ihm immer geholfen. Wir streichen mit Teer faule Pferdehufe ein.«
Der Hausmeister hob die Brauen. »Die Tochter eines Hufschmieds bist du? Und was machst du dann hier?« Im nächsten Moment winkte er ab. »Ich will’s gar nicht wissen. Ihr Jungen seid so dumm! Statt eure Chancen zu nutzen, macht ihr nichts als Dummheiten. Und jetzt zeig, ob du arbeiten kannst oder zu den Faulpelzen gehörst, von denen es hier mehr als genug gibt.«
Im Schlafsaal war es schon lange still, nur hie und da war ein leises
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