Solang die Welt noch schläft (German Edition)
und seine Frau Elsbeth gehörten jedoch nicht dazu. Und so blieb Frieda nichts anderes übrig, als sich zu ihnen auf den Weg zu machen.
»Josefines Husten wird immer schlimmer! Wahrscheinlich hat sie zu viel Rauch eingeatmet beim Versuch, Felix retten zu wollen. Wenn ihr nicht bald etwas unternehmt, könnt ihr euer zweites Kind zu Grabe tragen«, sagte sie, als sie schließlich beim Schmied-Schmied und seiner Frau am Tisch saß. Josefine, die bei Friedas Ankunft gerade den Abwasch machte, hatten sie aus der Küche geschickt. Besser, das Mädchen bekam nicht alles mit, was geredet wurde.
»Bist du neuerdings unter die Ärzte gegangen? Was kümmert dich Josefines Husten?«, fuhr der Schmied Frieda an.
»Doktor Fritsche hat für ihren andauernden Husten keine Erklärung«, sagte Elsbeth Schmied. »Wahrscheinlich spielt sie uns nur was vor.«
Frieda seufzte. Dass die Verbitterung der Schmieds so groß war, hatte sie sich nicht vorstellen können. Sie wandte sich an Elsbeth.
»Irgendeinen Rat muss Doktor Fritsche doch gehabt haben?«
»Wir sollen sie an die Nord- oder Ostsee schicken. Die klare Meeresluft sei gut bei Lungenleiden.« Elsbeth Schmied verdrehte die Augen, um auszudrücken, wie viel sie vom Rat des Arztes hielt.
»Klare Meeresluft! Ich schufte den ganzen Tag in der Schmiede und brauche auch keine klare Meeresluft«, sagte ihr Mann verächtlich. »Sollen wir etwa die Göre mit einer ausgedehnten Sommerfrische belohnen, während Felix von den Würmern aufgefressen wird?«
Frieda hatte plötzlich das Gefühl, es keine Minute länger in der düsteren Küche aushalten zu können. Sie holte tief Luft.
»Ich möchte euch einen Vorschlag machen«, sagte sie und schaute dabei den Schmied und seine Frau nachdrücklich an. »Ich habe Verwandte im Schwarzwald, genauer gesagt in einem Ort namens Schömberg. Mein Neffe arbeitet als Hausmeister im dortigen Sanatorium. Das ist ein spezielles Krankenhaus für Lungenkranke. In Schömberg soll ein ausgezeichnetes Heilklima herrschen, genau das Richtige für Josefines Husten. Joachim, so heißt mein Neffe, könnte etwas für eure Tochter erreichen – ein paar Wochen Aufenthalt, eine kleine Kammer, ärztliche Behandlungen …«
»Ein Sanatorium am anderen Ende des Kaiserreichs, wunderbar!«, sagte der Schmied höhnisch. »Wer hilft mir dann in der Werkstatt? Und wer zahlt das alles? Von mir gibt’s dafür keinen Pfennig.«
»Glaubst du etwa, das hätte ich von dir erwartet?«, erwiderte Frieda eisig. »Ich komme gern für sämtliche Kosten auf, solang es dem Mädchen hilft. Wenn ihr einverstanden seid, könnte Josefine Mitte Oktober auf die Reise gehen. Zu dieser Zeit fährt nämlich Oskar Reutter vom Kaufhaus vorn an der Ecke wegen geschäftlicher Belange nach Stuttgart, er wäre in meinen Augen eine ideale Reisebegleitung für Josefine.«
»Du scheinst dir ja viele Gedanken gemacht zu haben.« Der Schmied-Schmied schaute Frieda feindselig an. »Aber warum bis Mitte Oktober warten? Von mir aus kannst du das nichtsnutzige Ding gleich mitnehmen, dann kommt sie mir wenigstens nicht mehr unter die Augen. Eine neue Hilfskraft finde ich allemal.«
Keiner der Erwachsenen bekam mit, dass Josefine dem Wortwechsel hinter der Tür mit starrer Miene und gebrochenem Herzen lauschte.
Am Abend vor der Abreise nahm Josefine den Pappkoffer, den Gundel von ihrem Arbeitgeber für sie ausgeliehen hatte, und stopfte Unterwäsche, Socken und ihre drei Kleider hinein. Die Türklinke schon in der Hand, schaute sie sich ein letztes Mal in ihrem Zimmer um und stellte traurig fest, dass es keinen einzigen Gegenstand gab, den sie mitnehmen wollte. Kein Buch, kein abgenutztes heißgeliebtes Spielzeug, kein Erinnerungsstück. Sie wollte nur noch fort. Fort vom Hass ihres Vaters, von der Kälte ihrer Mutter. Fort aus dem Haus, dessen Mauern so vorwurfsvoll wirkten, dass es ihr das letzte bisschen Luft abschnürte.
Als sie zur Apotheke ging, um Clara adieu zu sagen, hieß es, diese sei beschäftigt.
Die Zugfahrt, die sehr früh am Morgen begonnen hatte, verlief ruhig. Nur einmal, kurz vor Nürnberg, hielt die dampfende Lok plötzlich auf offener Strecke an, warum, wusste niemand.
»Bestimmt nur ein kleiner technischer Defekt«, sagte Josefines Reisebegleiter Oskar Reutter, während er seinen Reiseproviant mit ihr teilte. »Die Eisenbahn ist die größte Erfindung unseres Jahrhunderts. Jedes Jahr wird das Schienennetz weiter ausgebaut, bald wird selbst der letzte Winkel unseres Kaiserreichs
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