Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Scharfkantigem zerschnitt. Jo fuhr langsamer. Im nächsten Moment erkannte sie, es war ein Rad, das im hohen Gras der Böschung lag. Eins, das ihr nur allzu vertraut war.
O nein, bitte nicht! Ein Schaudern kroch über ihren Rücken, mit aller Kraft betätigte sie ihre lädierte Bremse. Statt ihr Rad vorsichtig abzulegen, wie sie es sonst getan hätte, ließ sie es einfach zu Boden fallen.
»Isabelle?« Ängstlich trat Jo an die Böschung heran, die viel steiler war, als sie angenommen hatte.
»Isa?« Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund.
Isabelle lag ungefähr fünf Meter tiefer, ihren Kopf seltsam nach hinten überstreckt, die Arme weit vom Körper abgespreizt. Ihr Rock hatte sich nach oben geschoben, der schmutzige Stoff bedeckte ihr Gesicht zur Hälfte, auf der linken Schläfe war Blut zu sehen. Ihre Augen waren weit geöffnet und starr.
Panisch schaute sich Josefine um. Hilfe! Sie brauchte Hilfe! Warum kam denn niemand!
Hastig kletterte Jo den Abhang hinab. Nur mit Mühe fanden ihre Füße in dem losen, sandigen Boden Halt. Ihre Hände brannten wie Feuer, als sie sich an den störrischen und scharfkantigen Grasbüscheln festhielt, um nicht selbst zu stürzen. Endlich hatte sie den leblosen Körper erreicht. Er lag in einer Kuhle, die den Sturz wohl zum Glück gebremst hatte.
»Isabelle …« Voller Angst legte sie eine Hand an Isabelles Hals. Ein schwacher Puls war zu spüren, zart wie der Flügelschlag einer Libelle. Danke, lieber Gott, danke.
Die Freundin war nur ohnmächtig. Vielleicht hatte sie sich bei ihrem Sturz auch eine Gehirnerschütterung zugezogen. Oder sich etwas gebrochen. Ratlos schaute Jo den leblosen Körper an. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Sie wollte Isabelle nicht durch eine falsche Handlung schaden. Um nicht ganz tatenlos dazuhocken, ordnete sie Isabelles Rock und legte ihre Beine parallel zueinander. Dann hob sie ihren rechten Arm an und bewegte ihn ganz langsam hin und her. Gebrochen schien er nicht zu sein. Behutsam stieg sie über die Freundin hinweg und hob deren linken Arm an. Auch hier war offenbar alles in Ordnung. Als beide Arme in einer etwas natürlicheren Haltung dalagen, krabbelte Jo den Hang hinter Isabelle ein Stück hinauf, bis sie hinter ihrem Kopf saß. Sie zog ihr Taschentuch aus der Tasche, feuchtete es mit Spucke an und tupfte das Blut fort. Es war glücklicherweise nur eine oberflächliche Platzwunde. Dann strich sie die wirren Haare aus Isabelles kreidebleichem Gesicht, flüsterte leise ihren Namen. Nichts rührte sich. Was, wenn sich Isabelle das Genick gebrochen hatte?
Die Handflächen nach oben gerichtet, schob Josefine schließlich beide Hände unter Isas Kopf.
»Isa … keine Angst …« Schweiß lief ihr die Stirn hinab, sie war es, die schreckliche Angst hatte!
Vorsichtig tasteten ihre Finger Isabelles Kopf und Nacken ab. Der kräftige Knochen da, wo der Rücken in den Hals überging. Die zwei Muskelstränge links und rechts daneben. Die kleinen Vertiefungen hinter den Ohren. Es fühlte sich alles gut an. Aber was wusste sie schon?
Ein leises Stöhnen ertönte. Erschrocken hielt Jo bei ihrer Untersuchung inne.
Isabelles starrer Blick ins Leere löste sich auf, sie blinzelte einmal, zweimal. »Josefine?«
»Ja, ich bin’s …« Erleichtert streichelte Jo über Isabelles Wange. »Alles wird gut.«
Isabelle stöhnte erneut, dann schloss sie die Augen.
Hilflos starrte Jo auf die Freundin hinab. Und nun? »Kannst du den Kopf heben? Ich helfe dir … Tut das weh? Geht es?« Bedächtig, Zentimeter für Zentimeter, hob sie Isas Kopf an und legte ihn in ihren Schoß.
»Was … ist … passiert? Wo bin ich?« Sie schlug die Augen auf, unruhig raste ihr Blick von links nach rechts, sie wollte aufstehen, wie ein verletztes Tier, das in eine Schlinge geraten war, wand sie sich vergeblich hin und her.
Sanft hielt Jo sie fest. »Du bist gestürzt. Vielleicht ist es besser, du bleibst erst einmal so liegen.« Sie schob ihren Oberkörper ein wenig nach vorn, um Isas Kopf Schatten zu spenden. Isabelles ganzer Körper fühlte sich hitzig an, ob das nur von der erbarmungslosen Sonne kam oder ob sie Fieber hatte, wusste Jo nicht.
Und nun? Ihr Plan, Isabelle zu stützen und ihr so den Berg hinaufzuhelfen, war nicht durchführbar. Im Geiste ging sie die Positionen der einzelnen Rennfahrer durch: Susanne und ihre Gruppe waren hier längst vorbeigefahren, das galt allem Anschein nach auch für Leon. Irene war bestimmt ebenfalls schon weiter.
Weitere Kostenlose Bücher