Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Mitfahrers deckte, war es schön. Wenn nicht, dann eben nicht.
Nach einer halben Stunde hatte Jo ihren Rhythmus wiedergefunden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Fahrerinnen, denen es vor der Dunkelheit graute, war sie Nachtfahrten gewohnt. So angenehm es gewesen war, mit Lilo und Irene zu fahren, so schön war es auch, allein durch die Nacht zu radeln. Die Luft war erfüllt vom Geruch des Meeres und der gelb blühenden Kräuter, die am Straßenrand in dicken Büscheln wuchsen. Es war eine klare Nacht, trocken und nicht zu kalt – bessere Bedingungen hätte man sich nicht wünschen können.
Von Koge führte die Strecke ein Stück an der Küste entlang, ab Albertslund ging es dann weiter durchs Landesinnere, was Jo nur recht war, denn der Rückenwind, den sie bei ihrer Fahrt gen Süden so angenehm empfunden hatte, hatte ihr an der Küste als garstiger Gegenwind ins Gesicht gepfiffen. Die Straßen waren breit und gut ausgebaut, Jo nutzte diesen Streckenabschnitt, um ihr Tempo ein wenig zu erhöhen.
Die Morgendämmerung setzte kurz vor sechs Uhr ein. Kaum dass sie einigermaßen sehen konnte, schaltete Josefine ihre Lampe aus, um Gas zu sparen – ein Fehler, wie sich kurz darauf herausstellte. Denn im Dämmerlicht waren die Straßenunebenheiten nicht gänzlich auszumachen, und so holperte Jo über einen faustgroßen Stein, statt ihm auszuweichen, wie sie es bei guter Sicht getan hätte. Der Schlag war so heftig, dass er ihr fast den Lenker aus der Hand riss. Gerade noch einmal gutgegangen, dachte sie erschrocken.
Keine hundert Meter weiter machte die Straße eine spitze Linkskurve. Jo drückte auf die Bremse, doch nichts geschah. Bei dem Aufprall auf den Stein musste sich wohl ein Bremsbelag gelöst haben. Hektisch nahm sie beide Füße von den Pedalen, versuchte am Boden schleifend eine Bremswirkung zu erzeugen, was ihr nur einigermaßen gelang. Nachdem sie die Kurve gefährlich schnell genommen hatte, ließ sie ihr Rad auf der Geraden austrudeln. Seufzend stieg sie ab und zündete die Lampe erneut an – für die Reparatur, die sie vor sich hatte, brauchte sie jedes bisschen Licht, das sie bekommen konnte.
Durch den harten Rempler über den Stein hatte sich tatsächlich einer der Gummibremsbeläge aus der Vorderradfelgenbremse gelöst und war fort. Schraubendreher, Flickzeug, sogar ein Döschen mit Schmierfett – an alles hatte sie gedacht, nur nicht daran, ein paar Ersatzbremsbeläge mitzunehmen! Zuerst vergaß sie das Trinken, dann das Essen. Und nun auch noch das! Wie viele Fehler würde sie noch machen? Wütend über sich selbst, machte sich Jo daran, den noch vorhandenen Gummiklotz aus seiner Halterung zu lösen. Sie war gerade dabei, ihn mit dem Taschenmesser in zwei exakt gleich breite Stücke zu teilen, als sie hinter sich Stimmen hörte. Doch es war nicht wie erhofft die Kutsche mit Adrian und Gerd Melchior samt seiner mobilen Werkstatt.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte Leon und hielt neben ihr an.
»Danke, aber das bekomme ich allein hin«, erwiderte Jo, während sie den halbierten Bremsbelag in die linke Halterung der Bremse schob. Die andere Hälfte kam in die rechte Halterung.
»Wirklich? Ich helfe dir gern«, sagte Leon zweifelnd. Mit seiner rechten Hand machte er eine beschwichtigende Geste in Isabelles Richtung, die ein Stück weiter vorn ungeduldig auf ihn wartete.
Jo nickte. »Ich habe nur einen Bremsbelag verloren. Aber du kennst das ja: Aus eins mach zwei! Ist schon geschehen. Nun muss ich die halbierten Bremsklötze nur noch mit dem Anschlag kontern, und weiter geht’s.« Suchend schaute sie sich nach einem Stein um, den sie als eine Art Hammer verwenden konnte, um die Bremshalterung so umzubiegen, dass sie die Gummistücke kein zweites Mal verlor.
»Dann gute Fahrt!«, sagte Leon, offenbar nur halb davon überzeugt, dass sie wirklich wusste, was sie tat.
»Hilf dir doch selbst – darin bist du doch besonders gut!«, rief Isabelle höhnisch.
Traurig schaute Jo ihrer Freundin hinterher. Wenige Minuten später schwang sie sich wieder aufs Rad.
33. Kapitel
»Warum musstest du unbedingt bei der dummen Pute anhalten?«, zischte Isabelle, kaum dass Leon zu ihr aufgeschlossen hatte. »Hilfsbereit wie eh und je, pah! Und als Dank jagt sie dir ein Messer in den Rücken, wart’s nur ab.«
Leon warf ihr einen belustigten Blick zu. »Ich weiß wirklich nicht, warum du dich so aufregst, Schatz! Nur, weil sich Josefine in einen deiner abgelegten Liebhaber verliebt hat? Was hättest du
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