Solang die Welt noch schläft (German Edition)
eingeschüchtert zugleich.
»Ein Keuchhusten ist es auch nicht«, sagte der Arzt und machte sich eine Notiz in seinen Unterlagen. »Ich konnte ein leichtes Rasseln hören, aber keine bedrohlichen Lungengeräusche. Das lässt die Hoffnung zu, dass deine Lunge noch keinen Schaden genommen hat. Blut spuckst du auch nicht – seit wann, sagtest du, hast du diesen Husten?« Mit gespitzter Feder in der Hand schaute er Josefine an.
»Seit dem Frühjahr«, erwiderte sie und betrachtete ihrerseits den Arzt, dessen schmaler Ziegenbart bei jedem Wort ein wenig bebte. Doktor Homburger war hünenhaft groß und schlank. Er hatte blasse, fast durchscheinende Haut und sah aus wie ein Mensch, der die meiste Zeit des Tages in dunklen Räumen verbrachte. Hätte Josefine einen Lungenkranken beschreiben müssen, wäre ihre Beschreibung seinem Aussehen sehr nahe gekommen.
»Das ist allerdings recht lang. Ursächlich war der Rauch eines Feuers, dem du ausgesetzt warst – habe ich das richtig verstanden?« Er blätterte in irgendwelchen Unterlagen, von denen Josefine sich fragte, woher er sie hatte und ob sie sie betrafen.
Sie nickte. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, wurde sie von einem neuerlichen Hustenanfall geschüttelt.
Doktor Homburger schnappte sein Hörrohr und legte es an ihren Rücken. »Seltsam«, murmelte er vor sich hin, nachdem sie sich beruhigt hatte. Er bat Josefine, ihm zu einem kleinen runden Tisch am Fenster zu folgen. Während er ihr ein Glas Wasser einschenkte, sprach er weiter:
»Wir haben uns hier auf die Behandlung Tuberkulosekranker spezialisiert. Ich weiß nicht, was du über diese Krankheit weißt, die man auch Schwindsucht nennt …«
Josefine zuckte mit den Schultern. »In manchen Berliner Stadtvierteln, wo die Menschen sehr eng beieinanderwohnen, bricht ab und an eine Epidemie aus, zumindest habe ich die Leute davon schon reden hören. Dann werden die Bürger aufgerufen, dieses Gebiet zu meiden. Und wenn sie doch dorthin müssen, sollen sie mit einem Tuch vor dem Gesicht hindurchlaufen und niemandem, der aussieht, als habe er die Schwindsucht, die Hand geben.«
Der Arzt nickte. »Früher galt Tuberkulose als eine Krankheit der Künstler und der liebenden Seelen, und mancher unserer Gäste findet daran auch heute noch Gefallen.« Er lachte belustigt auf. »Aber Tatsache ist, dass die Schwindsucht heutzutage vor allem die Geißel der Armen ist. Noch vor ein paar Jahren galt sie als unheilbar, inzwischen geht die Wissenschaft jedoch davon aus, dass gute Heilungschancen bestehen, vor allem an immunen Orten, also dort, wo die Schwindsucht bisher kein einziges Mal aufgetreten ist. Schömberg mit seiner reinen Höhenluft ist deshalb als Ort für ein Sanatorium geradezu prädestiniert!«
Josefine runzelte die Stirn. Ein »immuner Ort« – wie steril sich das anhörte. Es passte gar nicht zu dem satten Grün, das sie von ihrem Fenster aus sah.
»Nach wie vor ist Tuberkulose hochgradig ansteckend. Da du selbst nicht daran leidest, stellt diese Ansteckungsgefahr ein großes und auch unnötiges Risiko für dich dar, vor allem in deinem geschwächten Zustand. Es wäre also vielleicht das Beste, wenn ich dich sofort wieder nach Hause schicke …«
»Das können Sie nicht tun!« Josefine schaute den Arzt entsetzt an. Sie hatte sich gerade erst an den Gedanken gewöhnt, eine Zeitlang an diesem schönen wie seltsamen Ort zu verbringen. »Wie soll ich wieder gesund werden, wenn Sie mich wegschicken? In Berlin kann mir niemand helfen, all meine Hoffnungen liegen auf diesem Sanatorium. Bitte, ich flehe Sie an!« Als der Arzt nicht gleich antwortete, fuhr sie fort: »Ich möchte mich endlich wieder wohl fühlen in meiner Haut. Die schwere Last loswerden, die so sehr auf meine Brust drückt, dass ich kaum noch atmen kann. Früher war ich ziemlich robust, und das wäre ich gern wieder, ich habe allerdings nicht die geringste Ahnung, wie das gehen soll.« Sie sackte auf ihrem Stuhl zusammen wie ein Häufchen Elend.
Der Arzt blätterte erneut in den Unterlagen, und als er aufschaute, sagte er: »Ich sehe gerade, dass dein Kostgeld schon für einige Wochen im Voraus bezahlt wurde. Vielleicht sollten wir angesichts dieser Tatsache doch einen Versuch starten.«
Josefine nickte eifrig.
Seufzend lehnte sich Doktor Homburger zurück. »Also gut, machen wir eine Ausnahme. Aber nur, wenn du dich an die wichtigste Regel von allen hältst.«
Erneut nickte Josefine. »Und die wäre?«
»Du musst im Umgang mit unseren
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