Solang die Welt noch schläft (German Edition)
etliche Straßen ab. Einen Kirchturm sah Josefine auch und mehrere Dächer von weiteren größeren Gebäuden. Ob dies weitere Sanatorien waren?
»Gute Erholung!« Der Kutscher lüpfte seinen Hut, dann sprang er wieder auf den Bock.
Einen Moment lang schaute Josefine ihm hinterher, dann besann sie sich, hob ihren Koffer und ging tapfer auf ihre neue Bleibe zu.
»Das hier ist deine Kammer!« Schwungvoll schloss die Empfangsdame des Schömberger Luftkurhauses eines von ungefähr zehn nebeneinanderliegenden Zimmern auf. »Herr Roth, unser Hausmeister, über den wir deine Anmeldung erhalten haben, meinte, du würdest dich auch mit einem kleineren Zimmer zufriedengeben.«
Mit klopfendem Herzen trat Josefine ein. Kleines Zimmer? Es war mindestens so groß wie ihres zu Hause! Und viel schöner und gemütlicher. Ein Bett mit rosa-weiß karierter Bettwäsche, ein Tisch mit einer Tischdecke aus demselben Stoff, davor ein Stuhl, ein großer Schrank, ein Waschbecken an der Wand. Alles war sauber, überschaubar und wirkte sehr einladend. Hier würde sie in den nächsten Wochen also wohnen.
»Ein eigenes Waschbecken, so einen Luxus habe ich noch nie gehabt«, sagte sie mit belegter Stimme und strich fast andächtig über das Porzellan.
»Diese Neuheit haben wir Hugo Römpler, dem Gründer der Heilanstalt, zu verdanken. Er ist der Ansicht, dass mangelnde Körperhygiene viele Krankheiten geradezu noch fördert«, sagte die Empfangsdame mit Stolz in der Stimme. Sie ging zum Tisch und strich eine Falte in der Tischdecke glatt. »Bevor dieses Haus zu einem Sanatorium umgebaut wurde, beherbergte es den Gasthof Hirsch. Die damaligen Gäste durften jedoch nicht den Komfort eines eigenen Waschbeckens genießen, erst Herr Römpler hat die Möglichkeiten erkannt, die der ›Hirsch‹ bot. Den Speisesaal und den Gästesalon hat er belassen, wie sie waren, sie befinden sich im Erdgeschoss.« Die Frau zeigte in Richtung Tür. »Dort liegt auch unsere Bibliothek. Wir ermuntern unsere Gäste, sich stets angenehme Lektüre auszuwählen, denn ein froher Geist beschleunigt jeden Heilungsprozess. Das Wetter ist derzeit noch so schön, wenn du magst, kannst du tagsüber sogar noch mit einem Buch in unserem wunderschönen Garten sitzen. Herr Römpler hat extra einen Landschaftsgärtner aus Baden-Baden kommen lassen, der aus dem einstigen Nutzgarten des Hirschen eine herrliche Oase der Ruhe schuf, mit Sitzbänken und einem Pavillon. Sogar einen kleinen Seerosenteich haben wir, ist das nicht toll? Sieh mal, Herr Römpler hat den Garten sogar beleuchten lassen.« Die Empfangsdame war in ihrem begeisterten Vortrag nicht zu bremsen und schob jetzt den karierten Vorhang zur Seite, so dass Josefine aus dem Fenster schauen konnte.
»Das ist ja wirklich einmalig schön«, sagte Josefine und spürte zum ersten Mal so etwas wie Vorfreude in sich aufsteigen. Eine Bibliothek. Im Garten Bücher lesen. Und solch ein schönes Zimmer …
Sie zeigte auf ein langgestrecktes Dach direkt unter ihrem Fenster. »Und was verbirgt sich darunter?«
»Unser neuer Anbau. Darin ist die Bäderabteilung untergebracht. Sechs Wannen für Sitzbäder haben wir, aber ob solche Bäder auf deinem Genesungsplan stehen, wird sich erst morgen bei der ärztlichen Untersuchung herausstellen.« Stirnrunzelnd schaute die Empfangsdame Josefine an, und nach einem Blick auf die Uhr, die an einer Kette um ihren Hals baumelte, sagte sie: »So spät schon! In einer halben Stunde gibt es Abendessen. Aber noch bleibt dir genügend Zeit, um dich ein wenig frisch zu machen, bevor du zum Essen kommst.«
»Zum Essen?«, piepste Josefine. Das gute Gefühl, das sich gerade in ihr breitgemacht hatte, verschwand und machte einem neuerlichen nervösen Grummeln in der Magengegend Platz. Der Gedanke an die fremden Menschen, die sie treffen und mit denen sie sich unterhalten sollte, ängstigte sie.
»Ich weiß nicht … Ich will mich nicht aufdrängen … Und eigentlich habe ich gar keinen Hunger.«
»Keine Angst, hier sind alle sehr freundlich und zuvorkommend.« Die Empfangsdame lachte auf. »Derzeit sind besonders liebenswerte Damen und Herren anwesend, zwar alle älter als du, aber die Krankheiten und der Wunsch nach Genesung reichen in der Regel als gemeinsame Gesprächsgrundlage völlig aus.« Sie hatte die Klinke schon in der Hand, als sie nochmals innehielt.
»Eines hätte ich fast vergessen … Hier im Luftkurhaus benutzen wir eine spezielle Form der Anrede. Bei uns gibt es keinen Herrn
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