Solang die Welt noch schläft (German Edition)
kleine Silvesterfeier geplant. Während einige der Gäste mehr oder weniger lustlos den Speisesaal mit Papierrosen und bunten Bändern dekorierten und die Köchin einen alkoholfreien Fruchtpunsch ansetzte, war Josefine wieder einmal, dick eingepackt in Mantel, Schal und Mütze, unterwegs. Ein letzter Spaziergang im alten Jahr – ob sie wohl bereit war, einen Rückblick aufs vergangene Jahr zu wagen? Vielleicht oben an dem kleinen Aussichtspunkt im Wald, dachte sie. An diesem Ort wurde ihr immer so leicht ums Herz, und ihre Gedanken flogen geradezu in den Himmel hinein.
Obwohl es erst halb drei am Nachmittag war, hatte sich bereits ein Hauch Dämmerung über das Dorf gelegt. Noch immer war der Schnee ausgeblieben, dafür hatte sich eine leichte Frostschicht wie Zuckerguss über die Gegend gelegt. Inzwischen war der schneearme Winter Dauergespräch unter den Patienten und Angestellten des Sanatoriums. Laut Roswitha hatte es so etwas in über vierzig Jahren nicht gegeben.
Vereinzelt eilte eine dick vermummte Gestalt die Straße entlang. In vielen Häusern brannten Kerzen in den Fenstern, und Josefine fragte sich, ob dies wohl ein Schwarzwälder Neujahrsbrauch war. Der Rauch, der aus den Kaminen emporzüngelte und sich in der winterlichen Luft verlor, roch würzig nach Tannennadeln und Wald.
Plötzlich blieb Josefines Blick an einem besonders stattlichen Gebäude hängen. Bestimmt saß hier eine Familie friedlich zusammen … Ein leises Sehnen machte sich in der Brust des jungen Mädchens bemerkbar. Wie es wohl ihrer Familie ging? Ob Clara wieder so hübsche Papierengel gefertigt hatte wie letztes Jahr? Und wer half Frieda, das Brennholz ins Haus zu tragen, nun, wo sie, Josefine, nicht da war?
Mit hochgerafftem Rock marschierte Josefine in Richtung Wald. An besonders steilen Wegstücken musste sie stehen bleiben, weil ein Hustenanfall sie überfiel. Trotz all ihrer Spaziergänge, der guten Schwarzwälder Kost und der vielen Ruhe, die sie in Schömberg genoss, hatte sich ihr Husten noch nicht wesentlich gebessert. Inzwischen runzelte Doktor Homburger, wann immer er sie sah, leicht verärgert die Stirn, als wäre es ihre Schuld, dass sie noch immer nicht genesen war. Dabei ärgerte sie sich selbst am meisten.
Sie hatte die ersten Bäume erreicht, als links von ihr ein Knirschen ertönte. Dann ein Rauschen und ein Scheppern. Im nächsten Moment raste ein großer Schatten so nahe an ihr vorbei, dass Josefine den Lufthauch spüren konnte.
Kurz darauf kam der rasende Schatten wenige Meter von ihr entfernt mit lautem Getöse zu Fall.
Sprachlos starrte Josefine auf das Bild, das sich ihr bot: eine junge Frau, ihr Rock zerwühlt, ihre Miene schmerzverzerrt, lag mit entblößten Beinen neben einer Art Maschine, die aus Rädern und metallischen Stangen zu bestehen schien.
»Was um alles in der Welt ist das?«
Außer einem Stöhnen bekam Josefine keine Antwort.
»Hast du dir weh getan? Kann ich dir helfen?« Josefine trat an die Verunglückte heran, streckte ihr zögerlich die Hände entgegen. Die andere musste im selben Alter sein wie sie selbst und hatte weizenblonde Haare, die nun, da sie ihre Wollmütze verloren hatte, wirr um ihr erschrockenes Gesicht fielen.
»Es geht schon«, stöhnte das Mädchen, während es sich mühsam aufrappelte. »Ist nicht das erste Mal, dass ich hinfalle. Hoffentlich ist dem Veloziped nichts passiert.«
»Dem … was ?«
»Dem Veloziped. Es gehört Herrn Braun.«
Josefine nickte, als könne sie mit dieser Information etwas anfangen.
»Herr Braun ist Unternehmer, er kommt mehrmals im Jahr hierher. Ihm gehört nicht nur das Fahrrad, sondern auch das gelbe Haus mit dem schmiedeeisernen Balkon, das letzte in der Straße, du müsstest daran vorbeigelaufen sein. Mein Vater kümmert sich in seiner Abwesenheit darum. Ich habe die Chance genutzt und mir sein Velo ausgeliehen«, führte das Mädchen weiter aus, während es das seltsame Gerät an einer seiner Stangen hochzog und es dann gründlich in Augenschein nahm.
Das Gefährt, das von dem Mädchen einmal als »Veloziped« und dann als »Fahrrad« bezeichnet wurde, bestand aus einem Gestänge aus Rundeisen, auf dem eine Art Sitz angebracht war. Es hatte zwei Räder, wobei das vordere größer war als das hintere. Beide Räder waren wesentlich schmaler als die einer Kutsche, sie ähnelten eher den Rädern vom Handwagen des Milchmannes, der in Josefines Viertel seine Waren ausfuhr. Sehr seltsam sah das aus …
»Das Velo hat den Sturz
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