Solang die Welt noch schläft (German Edition)
gut überstanden, mir ist auch nichts passiert. Und was ist mit dir?«
Josefine breitete die Arme aus, als wollte sie sagen: Alles in Ordnung.
Das Mädchen stieß erleichtert die Luft aus. »Gott sei Dank! Wenn ich dich über den Haufen gefahren hätte … Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass hier oben jemand unterwegs ist, und eine Bremse hat das Velo leider nicht. Was machst du eigentlich so allein im Wald? Du gehörst doch ins Sanatorium, oder? Ich habe dich schon öfter schnellen Schrittes durch unser Dorf laufen sehen. Ein paarmal wollte ich dich einholen und ein paar Worte mit dir wechseln, aber da warst du schon wieder auf und davon.«
Lächelnd stellte Josefine sich vor.
»Jo? Aus Berlin? Habe ich mir’s doch gedacht. Du bist das Mädchen, das meine Großtante Frieda hierhergeschickt hat.« Die junge Frau raufte sich die Haare, die danach noch wilder vom Kopf abstanden. »Ich bin Lieselotte, aber alle nennen mich nur Lilo.«
Lieselottes Händedruck war so fest, dass Josefine schmerzerfüllt das Gesicht verzog.
»Du bist die Tochter von Joachim Roth, unserem Hausmeister? Ich wusste gar nicht, dass er ein Kind hat. Und Frieda hat auch nichts von dir erzählt …«
Lilo prustete abfällig. »Wunderbar! Da sieht man, wie wichtig sie mich nehmen. Aber bei Vater wundert es mich nicht, er will nämlich nicht, dass ich mit den Kranken in Kontakt komme.« Lilo schnappte ihr Gefährt und schob es bergab. »Und davon, was ich hier mache, weiß er auch nichts – wehe, du sagst auch nur einen Ton!«
Josefine beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten. »Ich bin doch keine Petze. Aber jetzt warte doch mal! Was ist das für ein Gefährt? Ich habe so etwas noch nie gesehen. Und was hast du damit gemacht, bevor du gefallen bist? Du warst ja schneller als ein Blitz!«
Abrupt blieb die andere stehen. »Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich denke, du kommst aus Berlin, da muss es doch viele Velos geben. Erst kürzlich hat der Schwarzwälder Bote sogar über Damen berichtet, die in einem eurer Stadtparks Veloziped gefahren sein sollen. Die Leute haben sie allem Anschein nach übel beschimpft und mit Steinen beworfen, und der Schreiber hat von einer Schande fürs weibliche Geschlecht gesprochen. Sag bloß, das hast du nicht mitbekommen?«
»Nein, hab ich nicht. Ich … bei uns zu Hause lesen wir keine Zeitung. Es ist wirklich das erste Mal, dass ich so ein Velo sehe.«
Lilo runzelte skeptisch die Stirn, dann zeigte sie auf das Gefährt und schlug einen versöhnlicheren Ton an. »Das hier ist ein Veloziped, man nennt es auch Tretkurbelfahrrad. Hier auf diesen Sattel setzt du dich, und dann stellst du beide Füße seitlich auf je eine dieser Kurbeln. Mit den Händen hält man sich am Lenker fest, damit steuert man beim Fahren auch in die gewünschte Richtung. Indem man die Kurbeln tritt, setzt sich das Velo in Bewegung. Ich glaube, es ist schneller als ein Pferd. Und sündhaft teuer ist es auch«, sagte Lilo, und ihre Augen glänzten voller Stolz.
Ungläubig schüttelte Josefine den Kopf. »Aber es ist so schmal! Fällt man nicht just in dem Moment um, wenn man den Sattel erklommen hat?«
Lilo grinste. »Na ja, ein bisschen Geschick und Übung braucht man schon. Bis du mit dem Treten beginnst, musst du beide Füße auf dem Boden behalten, und danach musst du ganz schnell sein. Komm, ich zeige es dir!« Sie wendete ihr Gefährt in Richtung eines Querweges, der relativ eben in den Wald hineinführte.
Fasziniert schaute Josefine zu, wie das fremde Mädchen seinen Rock lüpfte und so viel Stoff wie nur möglich unter seinem Hinterteil verstaute. Sehr schicklich sah das nicht aus …
Im nächsten Moment schwang die Tochter des Hausmeisters beide Beine auf die Kurbeln und begann diese zu treten. In einer schwerfälligen, nicht sehr regelmäßigen Bewegung setzte sich das Velo in Gang, und Josefine erkannte, warum die junge Frau die Vorsichtsmaßnahme mit dem Rock ergriffen hatte – nicht auszudenken, wenn der Stoff zwischen die Stäbe in den Rädern geraten wäre! Die Räder des Velos drehten sich schneller und schneller, und ehe Josefine sichs versah, war Lilo hinter einer Kurve verschwunden.
Eilig wollte sie dem Mädchen hinterherrennen, doch da erschien Lilo schon wieder. Ihr Gesicht strahlte, ihre blonden Haare wehten im Wind, und sie rief Josefine lachend zu: »Aus dem Weg, sonst fahr ich dich doch noch über den Haufen!«
Lieselotte radelte noch drei, vier Mal den Weg vor und zurück, während Josefine ihr
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