Solang die Welt noch schläft (German Edition)
anderen Patienten äußerste Vorsicht walten lassen. Tuberkulose wird durch eine Tröpfcheninfektion übertragen, das heißt durch die Flüssigkeit, die ein Mensch beim Niesen oder Husten in die Luft versprüht. Also keine Umarmungen und stets genügend Abstand halten. Am besten hältst du dir in unseren öffentlichen Räumen immer ein Tuch vor Nase und Mund, und wenn dich jemand versehentlich anhusten sollte, dreh dich zur Seite und geh davon.«
Josefine nickte wieder und kam sich allmählich ein wenig albern vor. Wenn das alles war …
»Eine Liegekur auf dem Balkon oder Wannenbäder, wo die Kranken nebeneinanderliegen, kommen daher für dich nicht in Frage«, fuhr der Arzt geschäftig fort. »Aber bei deiner Art von Husten ist frische Luft und gleichzeitig leichte Bewegung sowieso die beste Medizin. Spaziergänge! Erst im Dorf, später dann, wenn du wieder ein wenig zu Kräften gekommen bist, gern auch durch die Wälder. Dazwischen ausreichend Ruhe, eine kräftigende Diät und das Schwarzwälder Heilklima – mit diesen Maßnahmen werden wir deinem Husten schon den Garaus machen. Ich schreibe dir einen Plan und erwarte von dir, dass du dich genau daran hältst – hast du mich verstanden?«
Josefine räusperte sich. »Ich soll spazieren gehen. So etwas … habe ich ehrlich gesagt noch nie getan. Verraten Sie mir bitte, wie das geht?«
In den nächsten Wochen lernte Josefine etwas kennen, was es bis dahin in ihrem Leben noch nicht gegeben hatte: Muße. Und sie lernte noch etwas kennen, nämlich sich selbst.
Als sie das erste Mal nach einem reichhaltigen Frühstück zum Spaziergang aufbrach, kam sie sich ziemlich seltsam vor. Mitten am Tag einfach durch die Gegend laufen! Nichts tun, während alle anderen beschäftigt waren. Nach einer halben Stunde hatte sie sich wieder in ihr Zimmer geflüchtet. Doch schon beim nächsten Spaziergang hatte ihr schlechtes Gewissen nicht mehr gar so laut gerufen – dazu gab es viel zu viel zu entdecken. Schömberg war ein schönes Dorf und es lag in einer wilden, urtümlichen Landschaft. Obwohl Josefine ein Stadtkind war, erkannte sie den besonderen Charakter des Ortes und verliebte sich in ihn. Das Laufen selbst bereitete ihr keine Probleme – wenn der Husten an einem steilen Wegstück zu schlimm wurde, pausierte sie einfach. Davon abgesehen war ihre Kondition nicht die schlechteste, was Josefine auf die Arbeit in der Hufschmiede zurückführte. Und so wagte sie es im Laufe der Zeit, immer weitere Strecken zu gehen. Nur selten bekam sie dabei einen der Dorfbewohner zu Gesicht, lediglich Waldarbeiter, die Holz schlugen, waren unterwegs. Und wenn ihr ein Gast aus dem Sanatorium über den Weg lief, suchte Josefine das Weite. Sie wollte sich nicht unterhalten. Nicht über Gott und die Welt und erst recht nicht über den Tod.
Zwischen ihren Spaziergängen legte sie, wie von Doktor Homburger gefordert, Erholungspausen ein. Dann ging sie, die zu Hause so gut wie nie ein Buch in die Hand nahm, in die bestens ausgestattete Bibliothek und las stundenlang. Vor allem der Roman Der grüne Heinrich von Gottfried Keller hatte es ihr angetan: Sie fühlte sich regelrecht seelenverwandt mit dem jungen Heinrich, der von seiner Mutter zu einem Besuch aufs Land geschickt wird, wo mehrere Dinge geschehen, die sein ganzes weiteres Leben prägen. Bei besonders spannenden Passagen ließ Josefine mehr als einmal das Buch in den Schoß sinken und fragte sich, ob es ihr in Schömberg wohl auch so ergehen würde. Blödsinn, befand sie dann lächelnd. Aber nun konnte sie endlich verstehen, was Frieda am Lesen fand!
Außerdem bot die Lektüre ihr die Möglichkeit, sich nicht in allzu viele Gespräche einlassen zu müssen. Der Umgang mit den kranken, oft schon vom Tod gezeichneten Menschen belastete Josefine – wie brutal und gemein der Tod sein konnte, hatte sie zu Hause hautnah erlebt. Davon wollte sie Abstand gewinnen. So verbrachte Josefine zum ersten Mal in ihrem Leben viel Zeit mit sich allein und stellte fest, dass sie eigentlich ganz gut mit sich auskam.
Es war der 31. Dezember 1889. In wenigen Stunden würde das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts anbrechen. Ein großer Tag. Im ganzen Kaiserreich nahmen sich die Menschen Zeit, um zurückzublicken oder auch einen Blick nach vorn zu wagen. Die Zeitungen waren je nach Gemütslage der Schreiber und Gesinnung des Blattes voll mit Prognosen über eine rosige Zukunft oder düstere Zeiten.
Auch im Schömberger Luftkurhaus war für den Abend eine
Weitere Kostenlose Bücher