Solang die Welt noch schläft (German Edition)
nächsten Moment kam ihr ein Gedanke. »Du … bist so schön – heiratest du heute etwa?«
Isabelle lachte irritiert. »Wie kommst du denn auf solchen Blödsinn?« Sie strich eine unsichtbare Falte aus dem seidig glänzenden Stoff ihres Kostüms, dann sagte sie: »Allerdings bin ich zu einem Rendezvous verabredet. Als es klingelte, dachte ich, mein Verehrer sei es.« Sie klang nicht gerade glücklich.
»Ein Rendezvous?«, wiederholte Clara, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. »Das hätte ich auch gern, aber meine Mutter meint, ich wäre dafür noch zu jung. Und außerdem hat sich für mich bisher noch niemand interessiert.« Sie verzog das Gesicht. »Da wollen wir nicht stören, los, komm schon, Jo.«
»Nein, so bleibt doch!«, sagte Isabelle eilig. »Der Herr, der mich abholen soll, ist zwar äußerst wohlhabend und sieht auch nicht einmal schlecht aus, aber er ist sterbenslangweilig. Mein Vater schätzt ihn sehr. Ich jedoch würde es viel mehr schätzen, den Nachmittag mit euch zu verbringen.« Ihre Augen blitzten unternehmungslustig, dann klatschte sie in die Hände. »Also, warum seid ihr hier?«
»Folgt mir, wir müssen zu einem Schuppen am anderen Ende des Geländes«, sagte Isabelle, während sie ohne Rücksicht auf ihre gelben Schuhe durch den weiß gekiesten Hof stakste. An Josefines Bitte schien sie nicht das Geringste seltsam zu finden.
»Aber … was ist, wenn der junge Herr dich abholen will und du nicht da bist? Dann bekommst du doch sicher Ärger«, sagte Clara schüchtern.
Josefine schaute sie düster an. Das wäre ja noch schöner, wenn Isabelle es sich wegen Claras Gerede noch anders überlegte!
Doch Isabelle lachte nur. »Ich werde meinen Eltern einfach die Wahrheit sagen – nämlich, dass zwei alte Freundinnen mich besucht haben und ich bei unseren anregenden Gesprächen die Zeit vergessen habe. So, hier hat mein Vater sein neuestes Spielzeug untergestellt.« Schwungvoll drückte sie die Klinke der Schuppentür nach unten, die mit einem schrillen Quietschen aufging. In der Mitte des Raumes stand, beleuchtet durch das einfallende Sonnenlicht, silbern schimmernd und nach Gummi und Maschinenöl riechend das Veloziped ihres Vaters.
Mit glänzenden Augen trat Josefine an das Gefährt heran. Andächtig strich sie über den Lenker, die Rohre, welche die beiden Räder verbanden, und über den Sattel, gerade so als wollte sie jeden Winkel, jede Krümmung, jeden Quadratzentimeter Material erspüren und sich für immer einprägen.
»Es ist wunderschön … Und so viel schlanker und leichter als das Rad von Lilo.« Rasch ging Josefine in die Hocke und unterzog das Gefährt einer noch genaueren Untersuchung. »Bei Lilos Velo ist das Vorderrad größer als das Hinterrad. Und eine solche Kette hatte es auch nicht, dafür einen Tretkurbelantrieb. Ich frage mich, wie dieses Velo hier funktioniert …«
»Und wer ist bitte schön Lilo? Wohnt sie auch in unserer Straße? Falls ja, kann ich mich beim besten Willen nicht an sie erinnern«, sagte Isabelle. »Aber ich kenne noch jemanden, der sich für solche Drahtesel interessiert! Meine Schulkameradin Irene fährt sogar selbst ein Velo. Allerdings ist ihr die letzte Fahrt nicht sonderlich gut bekommen, denn –« Isabelle brach ab, als ein massiger Schatten den Türrahmen verdüsterte.
»Kann mir bitte jemand erklären, was das hier zu bedeuten hat?«
»Vater …«
»Isabelle! Habe ich dir nicht gesagt, dass mein Veloziped tabu ist? Was machst du eigentlich hier? Vor dem Haus wartet Graf von Kyrill mit seinem Vierspänner auf dich«, blaffte er. Noch ehe Isabelle, die kreidebleich geworden war, antworten konnte, sagte Josefine:
»Verzeihen Sie, aber Isabelle ist unschuldig. Ich habe so lange gebettelt, dass sie mir Ihr Veloziped zeigt, bis sie gar nicht mehr anders konnte, als einzuwilligen. Es ist wunderschön … Danke, dass ich einen Blick darauf werfen durfte.« Sie streckte Moritz Herrenhus die Hand entgegen und war verwundert, als er sie tatsächlich ergriff. Er musterte sie reserviert.
»Ich kenne dich doch! Du bist die Tochter vom Schmied-Schmied, oder?«
Jo nickte, ohne seinem Blick auszuweichen.
»Das ist wahrlich ein guter Witz – ausgerechnet die Tochter des Pferdeschmieds interessiert sich für mein Velo«, sagte Moritz Herrenhus und lachte besänftigt auf. Graf von Kyrill war allem Anschein nach vergessen.
Jo und Clara tauschten einen Blick.
»Ein guter Witz – wie meinst du das?«, fragte Isabelle.
Ihr
Weitere Kostenlose Bücher