Solang die Welt noch schläft (German Edition)
»Irene sprach erst heute Nachmittag darüber. Sie sagte, es täte gut, ab und an die Konventionen zu brechen.«
Der Unternehmer runzelte die Stirn. »Konventionen brechen? Dass dies Gottlieb gefällt, kann ich mir nicht vorstellen. Der Mann tut doch stets so steif, als habe er einen Gehstock verschluckt.«
Die Mädchen unterdrückten ein Kichern. Es kam selten vor, dass ein Erwachsener in ihrer Gegenwart so sprach.
»Oh, ich glaube kaum, dass Gottlieb Neumann über alles informiert ist, was seine Tochter macht«, sagte Isabelle. »Wahrscheinlich leiht sich Irene das Rad ihres Bruders Adrian heimlich aus. So gesehen ist es mit dem Brechen der Konventionen nicht allzu weit her.« Herausfordernd schaute sie ihren Vater an. »Würdest du Josefine hingegen ganz offiziell eine Runde mit deinem Velo erlauben, wäre das wahrlich fortschrittlich!«
Moritz Herrenhus schaute seine Tochter argwöhnisch an. Dann straffte er seine Schultern und sagte mit geblähter Brust: »Genau mein Gedanke! Es ist mein Rad, und ich bestimme, wer darauf fährt und wer nicht. Und ob das dem Rest der Welt gefällt, interessiert mich nicht. Komm, ich helfe dir beim Aufsteigen.« Schon hielt er Josefine eine Hand hin.
Im goldenen Licht der untergehenden Sonne schwang Josefine ein Bein über die Stange des Velozipeds, dann raffte sie ihren an mehreren Stellen geflickten Rock und schob ihn samt Unterrock unter ihr Gesäß.
Clara stieß einen erschrockenen Zischlaut aus, als Josefines bestrumpftes Bein zum Vorschein kam. Hektisch trat sie näher und begann, Josefines Rock über ihre Beine zu drapieren.
»Man muss sehr aufpassen, dass der Stoff nicht in die Speichen kommt, sonst ist ein Sturz unvermeidbar«, sagte Josefine und zog das Kleidungsstück erneut ein wenig nach oben. Sie blickte zu Moritz Herrenhus und zuckte entschuldigend mit den Schultern.
Doch Isabelles Vater lachte nur und sagte: »Es ist nun einmal kein Sport für junge Damen, das habe ich euch doch gesagt. Aber hier sieht dich ja keiner.« Dann nickte er Josefine zu. »Nun zeig, was du im Schwarzwald gelernt hast, ich sichere dich auch während der Fahrt.« Erneut trat er an das Velo heran, doch bevor er seinen Arm ausgestreckt hatte, fuhr Josefine selbständig los.
»Das gibt’s doch nicht.« Verblüfft schaute Moritz Herrenhus zu, wie Josefine mit sicherem Tritt und ohne Wackeln sein Velo über den Hof steuerte. Vor der weißen Rückwand einer Lagerhalle fuhr sie nach links, machte eine Kurve, fuhr vorbei an den Beeten mit Osterglocken, weiter in Richtung Werkhallen.
»Das Mädchen fährt wie ein Mann! Diese Kraft, diese Körperbeherrschung …«
»Und wenn sie hinfällt und sich etwas bricht?«, murmelte Clara und knetete hilflos ihre Hände.
»Siehst du denn nicht, dass deine Freundin fährt wie der Teufel höchstpersönlich?«, sagte Isabelle, die ebenfalls mit fassungslosen Augen zuschaute. »Die fällt so schnell nicht hin.«
Josefine strahlte. Es tat so gut, wieder auf einem Velo zu sitzen!
»Gut machst du das, Josefine. Phänomenal! Wenn du deinen Oberkörper ein wenig mehr nach vorn beugst, fällt es dir noch leichter, die Balance zu halten. Ja, so ist’s gut.« Herrenhus klatschte anerkennend in die Hände. An Isabelle gewandt wiederholte er: »Deine Freundin ist wirklich ein Naturtalent.«
Als Josefine das nächste Mal an der kleinen Gruppe vorbeifuhr, trat Isabelle direkt in ihre Spur. Mit einem jähen Hopser sprang Josefine vom Rad, vom Vorderreifen spritzten kleine Splittersteine in die Höhe.
»Bist du verrückt?«, herrschte ihr Vater sie an. »Ein Velo hat keine Bremse, wegen dir wäre Josefine um ein Haar gestürzt.«
»Verzeihung«, sagte Isabelle gleichgültig. »Aber sie hat ihre Runde ja nun gedreht. Wie wäre es, wenn du zur Abwechslung einmal mich fahren lässt? Ich bin vielleicht kein Naturtalent « – sie betonte das Wort, als wäre es ein Schimpfwort –, »aber mit ein bisschen Hilfe und Übung bekomme ich das bestimmt auch hin.«
An diesem Tag entstand eine Freundschaft, die von den drei jungen Frauen selbst, wie auch von ihrem Umfeld, sehr unterschiedlich bewertet wurde.
Isabelles Mutter fand es ein wenig befremdend, dass ihre Tochter mit zwei »Straßenmädchen«, wie sie es ausdrückte, Umgang pflegte. Da Moritz Herrenhus die Freundschaft zu der Apotheker- und der Hufschmiedtochter jedoch tolerierte, konnte sie schlecht etwas dagegen sagen. Solang Isabelle ihre zahlreichen Pflichten wie die Höhere Mädchenschule, den Tanz- und
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