Solang die Welt noch schläft (German Edition)
erzählen«, sagte sie und hakte sich bei Clara unter.
»Wie sieht es in Schömberg aus?« »Wie ist es dir ergangen?« »Hast du Freunde gefunden? Du hast dich mit Lieselotte angefreundet? Wie schön!« »Wie wurde dein Husten geheilt?«
Frieda und Clara hatten tausendundeine Frage. Willig beantwortete Josefine sie alle, während sie bei Frieda in der Küche saßen und den mitgebrachten Schinken probierten.
Dass Lieselotte und sie auf einem Herrenfahrrad unterwegs gewesen waren, beeindruckte die alte Frau sehr.
»Für ein solches Abenteuer wäre ich in jungen Jahren auch zu haben gewesen«, sagte sie. »Heutzutage muss ich mich mit anderen Steckenpferden zufriedengeben.« Sie deutete auf den Stapel bunter Karten, der in Reichweite auf dem Tisch lag.
Kartenlegen … Josefine schmunzelte angesichts Friedas neuester Leidenschaft – wie lange diese wohl wieder anhalten würde? Dann sagte sie forsch: »Woher willst du wissen, dass du zum Velofahren zu alt bist, wenn du es nicht ausprobierst? Du bist doch nicht ganz arm, wenn du dir also ein Velo kaufen würdest, dann –«
»Das könnte dir so passen«, unterbrach Frieda sie lachend. »Velofahren ist dein Traum, nicht meiner.«
Josefine schaute die alte Freundin aus großen Augen an. »Woher weißt du das? Es ist tatsächlich mein allergrößter Traum, später einmal selbst ein Velo zu besitzen.«
»Was für eine verrückte Idee – so gefällst du mir, mein Kind!« Die alte Frau schaute sie entzückt an. »Träume sind so wichtig wie die Luft zum Atmen, sage ich immer. In meinem früheren Leben war für Träume kein Platz. Deshalb möchte ich mir heute wenigstens noch ein paar kleine Träume verwirklichen.« Sie verstummte für einen Moment. »Du aber bist noch jung, dir steht die Welt offen. Und weißt du, was noch viel besser ist, als nur zu träumen?« Friedas Augen funkelten verschmitzt.
Josefine schaute die alte Freundin neugierig an.
»Viel besser ist es, seine Träume Wirklichkeit werden zu lassen! Und dafür muss man natürlich einiges tun …«
»Das hatte ich ja vor«, fuhr Josefine auf. »Ich wollte jeden Pfennig, den ich als Magd oder Küchenhilfe verdiene, zur Seite legen und so lange sparen, bis es für ein eigenes Velo reicht. Aber nun hat Mutter mir verkündet, dass ich in der Hufschmiede arbeiten soll, und dafür bekomme ich gewiss keinen einzigen Pfennig.«
»Küchenhilfe! Schmiedegeselle!« Frieda seufzte. »Dabei habe ich deiner Mutter so sehr zugeredet, sie soll dich auf eine Höhere Mädchenschule schicken, damit du noch mehr lernen kannst.«
Eine Höhere Mädchenschule? Das wäre auch nicht gerade hilfreich für ihre Pläne, dachte Josefine, schwieg aber.
»Ich glaube, es ist am besten, wenn du die Sache mit dem Velofahren so schnell wie möglich wieder vergisst«, sagte Clara, die dem Gespräch bisher schweigend gefolgt war. »Es ist nämlich sehr gefährlich. Ständig kommt irgendein feiner Herr zu uns in die Apotheke und verlangt nach Heilsalben und Pflaster, weil er mit seinem Drahtesel gestürzt ist und sich dabei Knie oder Nase aufgeschlagen hat. Die Firma Beiersdorf muss inzwischen reich geworden sein bei den Umsätzen, die wir allein mit ihren Pflastern machen.«
»Das hört sich ja geradeso an, als ob die Berliner Straßen voll sind mit Velos – also, ich habe noch keins gesehen«, sagte Josefine.
»Es werden tatsächlich immer mehr«, erwiderte Clara. »Velofahren ist chic!, behauptet meine Mutter, sie wollte sogar, dass Vater sich auch eins kauft.«
»Und? Tut er es?«, fragte Josefine, sogleich eine Chance witternd. In Berlin war Radfahren chic ?!
»Vater doch nicht! So ein Velo ist erstens sündhaft teuer, sagt er, zweitens müsse man derzeit noch weit fahren, um überhaupt irgendwo eins kaufen zu können, und drittens ließe ihm die Apotheke für solch ein Hobby sowieso keine Zeit. Hobbys wären außerdem nur etwas für reiche Herrschaften mit Muße, so wie Moritz Herrenhus von der Bekleidungsfabrik einer ist. Er hat nämlich auch solch ein Gefährt.«
»Moritz Herrenhus? Der Vater von Isabelle, dem Mädchen mit den roten Haaren?« Josefines Augen wurden immer größer.
Clara nickte. »Genau der. Seltsam, an Isabelle habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht … Ob sie überhaupt noch in der Villa wohnt? Vielleicht haben sie sie in ein vornehmes Internat geschickt, womöglich nach Übersee?«
Isabelle Herrenhus war ein Jahr älter als sie. Vor vielen Jahren, als sie alle noch klein gewesen waren
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