Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Aufheulen, das Erlösung und Errettung zugleich war, schaute Josefine nach vorn.
»Ich lebe noch!«
Der Husten ließ nach. Josefine gesundete an Geist und Körper. Wenn sie ihr Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken betrachtete, staunte sie selbst, wie sehr es sich während ihrer Zeit in Schömberg verändert hatte: Ihre Wangen waren rosig – Apfelbäckchen nannte man das hier. Ihre Haut hatte einen gesunden Schimmer, ihre Haare glänzten strohgolden, außerdem waren sie eine Handbreit gewachsen, so dass sie sich einen schönen langen Zopf flechten konnte. Ihr Mund wirkte gut durchblutet und so rosenrot, als habe sie wie Claras Mutter Lippenrouge aufgetragen. Auch ihr Körper hatte sich verändert. Dank der guten Kost hatte sie an Gewicht zugelegt, und dies zeigte sich in schönen weiblichen Rundungen, wie Jo sie bisher nicht an sich kannte. Überhaupt hatte sie das Gefühl, ihren Körper erst im Sanatorium richtig kennengelernt zu haben. Zwei Beine zum Gehen, zwei Arme und zwei Hände zum Anpacken, dazu ein breites Kreuz – aus mehr hatte sie nicht bestanden, als sie hier angekommen war. Nun erkannte sie, dass ihre Haut einen perlmuttfarbenen Schimmer hatte. Dass ihre Brustwarzen rosa waren und sich kräuselten, wenn sie sie berührte. Sie war jung. Und sie war hübsch.
Am 4. April 1890 wurde Josefine als geheilt entlassen.
Schwester Gertrude, Roswitha und ein Teil der Patienten versammelten sich vor dem Haus, um zum Abschied zu winken. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge verteilte Josefine kleine Geschenke, die sie zuvor mit Lilos Hilfe im Dorf erstanden hatte. Lilo war nicht gekommen. »Ich hasse Abschiede«, hatte sie gesagt.
Einige Stunden später saß Josefine mit glänzenden Augen im Zug Richtung Heimat und schaute zu, wie die Wipfel des Schwarzwalds immer kleiner wurden. Was für eine schöne Zeit hatte sie in Schömberg erlebt! Wie intensiv hatte sie die einzigartige Landschaft mit ihrer reinen Luft kennenlernen dürfen.
Josefine grinste, als sie an Lilos Definition von »reiner Luft« dachte, die so ganz anders ausfiel als die der Leute im Sanatorium: Rein war die Luft dann, wenn niemand unterwegs war und sie beide gefahrlos Velo fahren konnten. Zukünftig würden sie sich Briefe schreiben, hatten sie sich in die Hand versprochen. Jeden Monat mindestens einen. Und Lilo wollte sie in Berlin besuchen kommen, vielleicht im Sommer schon.
6. Kapitel
Statt einer Begrüßung sagte ihre Mutter zu ihr: »Dass eins klar ist – das Lotterleben hat ab jetzt ein Ende. Jetzt, wo du nicht mehr in die Schule musst, wirst du deinem Vater in der Schmiede helfen. Nach allem, was geschehen ist, ist dies wohl das Mindeste, was wir von dir erwarten können.«
Josefine ließ den Pappkoffer sinken und schaute ihre Mutter, die am Spülstein stand, entsetzt an. »Aber ich dachte, du würdest eine Anstellung für mich suchen, so wie du es für Margret und Gundel getan hast.« Sie wollte doch Geld verdienen, eigenes Geld!
»Eine Anstellung für das gnädige Fräulein.« Elsbeth Schmied schnaubte. »Vielleicht in einem feinen Haushalt, wo du bis sieben Uhr am Morgen im warmen Bett liegen kannst und abends ab sieben auch schon wieder Feierabend hast – dachtest du an so etwas? Reicht dir dein Müßiggang immer noch nicht?« Ohne ein weiteres Wort schnappte die Mutter einen Wäschekorb und verschwand nach hinten in den Hof.
Was für eine freundliche Begrüßung, dachte Josefine, während sie ihren Koffer auspackte. Keine einzige Frage nach der Reise oder ihrem Wohlbefinden. Wütend und enttäuscht zugleich schnappte sie den Schwarzwälder Schinken, den Joachim Roth ihr für Frieda mitgegeben hatte, und verschwand.
Es war früher Sonntagnachmittag, als sie am Haus der Familie Berg klingelte. Im nächsten Moment schon flog die Tür auf.
»Josie, endlich, ich warte schon den ganzen Morgen darauf, dass du kommst!«, rief Clara ihr entgegen. »Ach, ich habe dich so vermisst! Berlin war schrecklich langweilig ohne dich.« Noch im Türrahmen fielen sich die Freundinnen in die Arme.
»Gut siehst du aus, richtig erholt. Deine Haut schimmert geradezu. Und wie schön deine Haare glänzen, da könnte ich fast neidisch werden. Die Kur scheint dir wahrlich gutgetan zu haben.« Bewundernd strich Clara ihr über die Wange, dann über die Haare. »Liebe Josie …«
Ein wohliges Gefühl erfüllte Josefine – es war doch schön, wieder zu Hause zu sein. »Lass uns zu Frieda gehen, dann muss ich nicht alles zweimal
Weitere Kostenlose Bücher