Solang die Welt noch schläft (German Edition)
hat euch gefallen, nicht wahr?«
Isabelle kniff die Lippen zusammen und schwieg.
»Dieser Rover ist so wendig«, antwortete Josefine sehnsüchtig. Rover Safety. Der Name schmeckte süßer als ein Karamellbonbon. »Sie sind ein sehr guter Fahrer«, sagte sie, als sie Herrenhus’ erwartungsvolle Miene sah.
»Und so ein Velo bist du auch schon gefahren? Spinnst du?«, raunte Clara Josefine zu. Laut und eine Spur vorwurfsvoll sagte sie: »Ich fand, dass das sehr gefährlich aussah.«
Gespreizt stieg Moritz Herrenhus von seinem Rad ab, während die honigfarbene Sonne hinter der weißen Mauer verschwand. Schlagartig fühlte sich die Luft kühler an.
»Gefährlich? Nun, wie man’s nimmt. Das Velofahren selbst ist, so man es beherrscht, eigentlich ziemlich harmlos. Gefährlich wird es erst auf belebten Straßen. Erst gestern hat mich ein Fuhrwerk fast über den Haufen gefahren, dabei bewegte ich mich am äußersten rechten Straßenrand. Der Kutscher hat sich regelrecht einen Spaß daraus gemacht, mich abzudrängen. Die Fuhrleute stehen mit den Velozipedisten auf Kriegsfuß, sie behaupten, bei unserem Anblick würden ihre Gäule scheuen. Zugegeben, es gibt auch Velofahrer, die mitten auf der Straße fahren, oder solche, die den Verkehr durch waghalsige Manöver gefährden. Im Tiergarten begegnete mir kürzlich ein Bursche, der sogleich ein Wettrennen mit mir machen wollte. Als ich mich nicht darauf einließ, wollte er mir zeigen, dass er während des Fahrens den Lenker loslassen kann. Prompt stürzte er. Aber wegen solcher Typen kann man doch nicht alle Velofahrer über einen Kamm scheren!«
Fasziniert lauschte Josefine jedem Wort. Wenn sich schon Fuhrleute beklagten, dann war das Velofahren in Berlin viel weiter verbreitet, als sie gedacht hatte! Sie selbst hatte in der Schmiede zwar noch nichts davon gehört, aber sie achtete auch nur selten auf die Reden der raubeinigen Männer.
Urplötzlich war ein schrilles Pfeifen zu vernehmen. Im blühenden Forsythienstrauch flatterten erschrocken ein paar Vögel auf, und auch Clara zuckte zusammen.
Josefine schaute in Richtung der Werkhallen. Gerade noch war alles so still gewesen, nun ächzten Maschinen, schlug Eisen auf Eisen, und grauer Rauch stieg aus einem der Kamine auf.
Moritz Herrenhus warf einen Blick auf seine goldene Taschenuhr. »Beginn der Sonntagabendschicht.«
Ohne sich um den Höllenlärm zu kümmern, ergriff nun zum ersten Mal Isabelle das Wort. »Wenn unser Gespann scheuen würde, nur weil es sich vor einem Veloziped erschreckt, während Mutter und ich im Wagen sitzen, würde dir das auch nicht gefallen. Vielleicht müssten Velozipede auf den Straßen einfach verboten werden?«
»Blödsinn!«, fuhr Moritz Herrenhus seine Tochter an. »Ich bin froh, dass das Velofahren in Berlin wieder erlaubt ist. Noch im Jahr 1858 war es nämlich verboten. Und heute gilt es, zig Gebote zu befolgen, manche davon halte ich für die reinste Schikane. Und eine Fahrradkarte braucht man auch.« Nicht ohne Stolz zog der Unternehmer einen kleinen Schein aus seiner Brusttasche und faltete ihn auf.
»Veloziped-Erlaubnisschein für Herrn Moritz Herrenhus«, las Josefine auf der rechten Blatthälfte. Links davon standen das Ausstellungsdatum und das Bezirksamt, welches die Karte ausgegeben hatte.
Josefine schluckte. Aufgebrachte Fuhrleute, Erlaubnisscheine – in der Großstadt schien das Velofahren wesentlich komplizierter zu sein als im dünnbesiedelten Schwarzwald.
Der Unternehmer wollte sein Gefährt schon wieder in den Schuppen schieben, als sie ihren ganzen Mut zusammennahm und sagte: »Ob ich … wohl auch eine kleine Runde damit drehen dürfte?« Ihr wurde ganz schwindelig von ihrer eigenen Courage.
»Du? Mein Velo fahren?« Einen Moment lang schien es dem Unternehmer die Sprache verschlagen zu haben.
Auch Isabelle und Clara schauten entgeistert drein.
»Es ist schon spät. Und frisch ist es auch geworden«, flüsterte Clara. »Komm, lass uns nach Hause gehen.«
Die Freundin ignorierend, schob Josefine eilig nach: »Im Schwarzwald durfte ich das auch, keine Sorge, Ihrem Velo wird nichts passieren.«
»Velofahren ist aber kein Sport für junge Damen«, sagte Herrenhus streng.
»Oh, da täuschst du dich, Vater«, meldete sich Isabelle mit zuckersüßer Stimme zu Wort. »Meine Freundin Irene fährt auch Velo, sie leiht es sich von ihrem Bruder aus.«
»Irene Neumann? Die Tochter von Gottlieb Neumann, dem Besitzer der Elektronischen Werke Berlin?«
Isabelle nickte.
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