Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Vater machte eine ausholende Handbewegung, mit der er auch den Lagerschuppen einschloss.
»Seht ihr hier irgendwo Heu oder Stroh? Seht ihr einen Stalljungen? Teures Sattelzeug, Lederfett oder Pferdesalben? Nein. Und warum seht ihr all diese Dinge nicht? Weil sie beim Drahtesel nicht nötig sind! Ein Veloziped ist wesentlich pflegeleichter als ein Pferd und daher auf die Dauer auch kostengünstiger. Ich sage euch – in ein paar Jahren werden wir so gut wie keine Pferde mehr auf den Straßen sehen, dafür umso mehr Fahrräder. Hoch zu Ross unterwegs zu sein – das war einmal. Heutzutage ist Radfahren angesagt. Dein Vater kann seine Schmiede bald schließen …«
»Das Velo soll einmal ein Ersatz fürs Pferd werden? Nie und nimmer«, platzte Josefine hervor. »Dazu ist es doch viel zu teuer. So einen Spaß können sich doch nur reiche Herren wie Sie leisten.«
Der Unternehmer lachte. »Noch! Aber das wird sich ändern, glaub mir. Wenn erst einmal die Nachfrage steigt, steigt auch das Angebot. Und die Hersteller werden ihre Preise nach unten anpassen. Außerdem – ein Pferd kann sich auch nicht jeder Hinz und Kunz leisten.« Er verschränkte die Arme und sagte: »Aber wie kommt es, dass eine junge Frau sich so sehr für diese technische Neuheit interessiert?«
Josefine zuckte mit den Schultern. »Ich … Im Schwarzwald, wo ich zur Kur war, gab es auch ein Velo, es war allerdings ein Tretkurbelrad und sah ganz anders aus als dieses hier. Es hat mich unglaublich fasziniert! Und als ich erfuhr, dass Sie ebenfalls stolzer Besitzer eines solch fortschrittlichen Gefährts sind, musste ich es unbedingt sehen.« Erneut strich sie fast andächtig über den Lenker.
Isabelles Vater nickte wohlwollend. »Dass dies ein besonders fortschrittliches Velo ist, hast du richtig erkannt.« Er ging in die Hocke, so wie Josefine es zuvor getan hatte, und zeigte auf sein Rad.
»Das hier ist nämlich ein sogenannter Rover, das neueste und beste Rad, das derzeit auf dem Markt ist. Er wird über das Hinterrad angetrieben. Die Tretkurbeln, auf die du deine Füße stellst, sind über die Kette mit dem Hinterrad verbunden, siehst du, hier. Dies ermöglicht dem Fahrer eine freie Übersetzungswahl. So etwas hat es bisher nicht gegeben.«
Konzentriert hörte Josefine seinem Vortrag zu, dann sagte sie: »Eine freie Übersetzungswahl – was versteht man darunter?«
Moritz Herrenhus lächelte. »Bisherige Fahrräder hatten ein sehr großes Vorderrad, an dem die Tretkurbel befestigt war. Die Größe des Vorderrades bestimmte die zurückgelegte Wegstrecke pro Kurbeldrehung. Beim Rover spielt die Größe des Antriebsrades hingegen keine Rolle mehr, weswegen Vorder- und Hinterrad auch gleich groß sind. Vielmehr sind diese beiden Zahnräder hier an der Tretkurbel und am Hinterrad maßgebend, denn je nach deren Größe kannst du die Wegstrecke pro Umdrehung verlängern oder verkürzen. Diese Konstruktion haben wir dem Engländer Harry Lawson zu verdanken. Mit der Unterstützung seines Freundes J. K. Stanley, eines Industriellen, hat er vor fünf Jahren das erste Niederrad erschaffen. Es heißt Rover Safety und trägt seinen Namen nicht von ungefähr – es ist nämlich sehr viel sicherer als das sturzanfällige Hochrad.«
Im nächsten Moment zog Moritz Herrenhus sein Jackett aus. Er legte die Manschettenknöpfe ab, krempelte die Ärmel hoch und sagte: »Wenn ihr mögt, führe ich euch das Rad gerne vor.« Schon schob er das Velo aus dem Schuppen in den Hof, wo er mit erhabener Miene eine Runde nach der anderen drehte.
Gebannt schaute Josefine zu, wie der Unternehmer auf der Geraden durch den Hof beschleunigte und dann kurz vor den Fabrikgebäuden eine enge Kurve drehte. Wie schnell und wendig das Velo war! Mit Lilos schwerem Gefährt hätte sie in dieser Art nie fahren können. Das Knirschen der Gummiräder auf dem gekiesten Innenhof klang wie die schönste Musik in ihren Ohren, ihre Fußspitzen begannen zu kribbeln, in ihrem Körper breitete sich eine Unruhe aus. Alles hätte sie dafür gegeben, selbst eine Runde fahren zu dürfen.
Nach einer letzten Kehre hielt Moritz Herrenhus vor den Mädchen an. Sein Anzug aus feinstem Tuch spannte im Rücken und an den Ärmeln, seine kalbsledernen Schuhe waren voller Staub, doch er schien sich nicht daran zu stören. Mit einer Geste, die eher zu einem jungen Burschen als zu einem gestandenen Geschäftsmann gepasst hätte, strich er sich eine Stirnlocke aus dem Gesicht und sagte großspurig: »Das
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