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Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Titel: Solang die Welt noch schläft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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Ballettunterricht, die Extralektionen in Parlierkunst und Benimmregeln nicht vernachlässigte, durfte sie gern ein paar Velorunden im Hof drehen, fand er. Außerdem gefiel es ihm, den jungen Frauen seinen Rover vorzuführen und ihnen von der Welt des Velosports zu berichten.
    Isabelle selbst war glücklich, in Josefine und Clara zwei unkomplizierte Freundinnen gefunden zu haben, bei denen sie sich nicht ewig nach oben strecken musste, so wie bei ihren Klassenkameradinnen, die allesamt Diplomatentöchter waren, aus Offiziers- oder Adelskreisen stammten oder deren Väter führende Persönlichkeiten in der Großindustrie waren. Gegen jene war ihr Vater nur ein kleines Licht, und das ließen die anderen sie spüren. Davon abgesehen hatte Isabelle den sportlichen Ehrgeiz entwickelt, Josefine auf dem Velo in den Schatten zu stellen. Velofahren machte auch ihr sehr viel Spaß.
    Clara, die die verhasste Haushaltsschule besuchte, konnte dem Velofahren nichts abgewinnen. Sie fürchtete sich regelrecht vor dem Gefährt und war die meiste Zeit zufrieden damit, den anderen bei ihren Runden zuzusehen. Ihre Mutter Sophie Berg hingegen war überglücklich über Claras frisch erblühte Freundschaft zu der wohlhabenden Fabrikantentochter. Sie träumte davon, dass Clara Zutritt zur feinen Berliner Gesellschaft bekommen und im besten Fall dadurch einen wohlhabenden Ehemann finden würde. Ein Herr Doktor, ein Rechtsanwalt oder ein gefragter Architekt schwebte ihr vor. Dass sich die Mädchen trafen, um Velo zu fahren, wusste sie nicht. Hätte sie es gewusst, wäre sie vor Angst um Claras Gesundheit wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen.
    Josefine war einfach nur glücklich. Dass sich ihr Traum vom Velofahren in Berlin so schnell würde verwirklichen lassen, hatte sie nicht zu hoffen gewagt. Zugegeben, der Herrenhus’sche Hof war nicht mit den weitläufigen Straßen des Schwarzwalds zu vergleichen, aber es war besser als nichts. Ihren Eltern erzählte sie nicht, was sie abends nach getaner Abend tat, denn die hätten ihr das Fahren sofort verboten.
    Nur Frieda durfte davon wissen. Ihr schwärmte sie ständig von Moritz Herrenhus’ Großzügigkeit vor, von seinem breiten Wissen über die verschiedenen Velozipedsportarten – dass es inzwischen sogar Veloschulen und -bahnen gab, hätte sie sonst nie erfahren.
    Obwohl die Sonne noch von einem strahlend blauen Himmel schien, lag der größte Teil der Görlitzer Straße schon im Schatten. Ein lauer Wind wehte Papierfetzen durch die Luft, in der der Geruch nach Maschinenöl und süßlich-fauligem Abfall lag. Josefine nickte den Nachbarn zu, die ihre winzigen Gemüsebeete vom Unkraut befreiten, damit Bohnen und Kohlrabi wenigstens eine kleine Chance hatten, im spärlichen Sonneneinfall zwischen den Häusern heranzureifen. Junge Mädchen mit schwingenden Röcken und Rüschen im Haar schlenderten Arm in Arm in Richtung Schlesischer Busch, während die jungen Burschen noch vor den Hauseingängen standen und sich den Alltagsschmutz von ihren Schuhen bürsteten. Manch einer pfiff Josefine anerkennend hinterher, was sie lächelnd ignorierte. Es war Sommer geworden.
    Auch Frieda war in ihrem Garten beschäftigt, allerdings grub sie keine Beete um, sondern hob ein Grab aus.
    »Ist gegen mein Küchenfenster geflogen, das dumme Ding«, sagte sie und wies mit dem Kinn auf eine Amsel, die mit von sich gestreckten Klauen tot auf einem alten Taschentuch lag. Schweiß lief der alten Frau über die Stirn, ihr Gesicht war vor Anstrengung feuerrot.
    Josefine ging neben ihr auf die Knie, nahm ihr die Handschaufel ab und grub weiter. Die Erde war trocken und krümelig, die Arbeit mühsam. Als das Erdloch tief genug war, legte sie das Taschentuch samt Vogel hinein, dann schippte sie die ausgehobene Erde wieder darauf. Mit dem Zeigefinger malte Jo ein Kreuz auf die Erde.
    Einen Moment noch verharrte Frieda in stillem Gebet auf den Knien, dann rappelte sie sich schwerfällig auf, bevor Jo ihr helfen konnte.
    »Ich dachte schon, du hättest mich vor lauter Velofahren vergessen.« Eine warmherzige Umarmung folgte, dann zog die alte Frau einen Brief aus ihrer Schürzentasche. »Lieselotte kommt nächste Woche, ist das nicht großartig?«
    »Mir hat sie auch geschrieben«, antwortete Josefine. »Ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Lilo wird Augen machen, wenn ich ihr den Rover von Moritz Herrenhus zeige! Ach, ich bin ihm so unendlich dankbar dafür, dass er mich damit fahren lässt, wenn es auch nur auf seinem

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