Solang die Welt noch schläft (German Edition)
einen so feinen Herrn wie Moritz Herrenhus arbeiten zu dürfen, denn dann bekäme ich wenigstens einen Lohn für die ganze Schinderei ausbezahlt. Ach, du hast ja keine Ahnung!« Abrupt stand sie auf und ging, ohne sich zu verabschieden.
Für solche Reden von Frieda brauchte sie ihre kostbare freie Zeit gewiss nicht zu verplempern. Durch den Fabrikanten hatte sich eine ganz neue Welt für sie aufgetan. Wenn Frieda das nicht verstand, konnte sie es nicht ändern.
8. Kapitel
In der darauffolgenden Woche kam Lilo. Josefine fiel der Freundin weinend in die Arme. Es tat so gut, die Schwarzwälderin wiederzusehen! Sehr zu Friedas Unmut entführte sie die Freundin noch am ersten Abend zu Isabelle. Auch Clara fand sich dort ein, und alle waren sich sofort sympathisch. Nach kurzer Zeit holte Isabelle den Rover aus dem Schuppen, um ihn dem Gast zu zeigen. Nachdem Lilo das Gefährt gebührend bewundert hatte, zog sie den Schwarzwälder Boten aus ihrer Tasche. In der großen Tageszeitung war ein ganzseitiger Bericht über das Velofahren abgedruckt. Sowohl Josefine als auch Isabelle wollten ihr das Blatt sofort entreißen, doch Lilo weigerte sich, es aus der Hand zu geben.
Genüsslich schlug sie das Blatt auf und las den gebannten jungen Frauen den Artikel vor, in dem es um das sogenannte Reigenfahren, ums Bahnfahren, Wettrennen und andere Spielarten ging. Dann schaute sie auf. »Und jetzt kommt’s! Hier steht, dass einige Offiziere mit dem Velo von Wien bis nach Berlin fahren wollen. Und dass sie sich dabei ein Wettrennen mit einem österreichischen Militärreiter liefern wollen.« Mit glänzenden Augen schaute die Schwarzwälderin in die Runde. »›Wer überwindet die Distanz von fünfhundertachtzig Kilometern schneller? Ross oder Veloreiter?‹ , so lautet die Schlagzeile.«
»Fünfhundertachtzig Kilometer mit dem Velo? Das ist ja fast bis zum Mond und wieder zurück!«, entfuhr es Josefine.
Lilo nickte. »Noch steht kein Termin für dieses verrückte Abenteuer fest, es fehlt den Herren wohl am nötigen Geld, um es zu organisieren. Aber sollte es irgendwann tatsächlich dazu kommen, werde ich alles dafür geben, um am Ziel zu stehen und dem Sieger zu applaudieren.«
»Da komme ich mit«, sagte Josefine spontan und streckte Lilo die Hand entgegen.
Auch Isabelle schlug in die Abmachung mit ein, Clara hingegen hielt sich zurück. Nach wie vor war ihr das Velofahren suspekt, und auf solche Verrücktheiten wie Langstreckenrennen konnte sie gern verzichten.
»Woher wollt ihr wissen, ob das Pferd nicht doch schneller ist?«, sagte sie mürrisch.
Lilo warf ihr einen kurzen Blick zu, dann verdrehte sie schwärmerisch die Augen. »Langstreckenrennen, das ist die ganz große Kunst. Irgendwann in meinem Leben probiere ich das auch.«
»Als ob so etwas für uns Frauen möglich wäre.« Josefine schnaubte.
»Warum sollte es nicht möglich sein?«, erwiderte Lilo. »Wir müssen nur dafür kämpfen!« Herausfordernd schaute sie die anderen an. »Wir müssen den Leuten endlich zeigen, dass Frauen genauso gut auf dem Velo fahren können wie Männer. Solang wir jedoch nur heimlich fahren, wird sich nichts an der Einstellung der anderen Leute ändern.«
»Und in der Zwischenzeit sollen wir uns mit Steinen bewerfen und bespucken lassen?«, sagte Isabelle. »Genau das ist nämlich meiner Schulkameradin Irene passiert, als sie im Frühjahr mit ihrer Freundin auf dem Velo durch den Tiergarten fuhr. Seitdem fährt sie auch nur noch heimlich.« Sie richtete sich auf. »Jetzt habe ich aber auch noch eine gute Nachricht für euch! Ich konnte meinen Vater überreden, uns alle nächste Woche an meinem Geburtstag auf die neue Radbahn im Berliner Osten einzuladen. Das wird sicher ein großer Spaß! Ein paar wichtige Geschäftsleute kommen zwar auch, und bestimmt bringen sie ihre unverheirateten Söhne mit – ganz ohne Hintergedanken lässt sich Papa auf solch ein Unternehmen gewiss nicht ein.« Sie seufzte auf übertriebene Art. »Aber deren Avancen weiß ich schon abzuwehren.«
»Wieso willst du junge Herren abwehren?«, fragte Lilo und schaute die Unternehmertochter stirnrunzelnd an. »Ich für meinen Fall hätte gegen einen flotten Velofahrer nichts einzuwenden.«
Die anderen lachten.
»Wenn’s bloß so wäre«, sagte Isabelle, als sie sich wieder beruhigt hatten. »Die Herren, die mein Vater als Heiratskandidaten für mich im Visier hat, fahren gewiss kein Velo. Sie tragen vielmehr Zylinder und haben Sehgläser auf der Nase, damit
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