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Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Titel: Solang die Welt noch schläft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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sie die Bilanzen ihrer Firmen besser lesen können.«
    »Wenn das so ist«, erwiderte die Schwarzwälderin, »die kannst du gern behalten!«
    Das Veloziped glänzte schwarz und roch schwach nach Kettenöl. Wie der Rover Safety hatte es einen Sattel, eine Lenkstange mit zwei Handgriffen und zwei gleich große Räder. Es war nicht ganz so hoch wie der Rover , und es sah nicht ganz so stabil aus, dafür wirkte es umso beweglicher. Es war wunderschön.
    Wie ein Zirkusdirektor, der die nächste Nummer anpreist, hielt Moritz Herrenhus seiner Tochter das Velo hin.
    »Dein Geburtstagsgeschenk!«
    Isabelles Miene war eine Mischung aus Sprachlosigkeit, Entzücken und Faszination.
    »Ein Veloziped – für mich?«
    »Hätte ich dir besser eine Nähmaschine kaufen sollen? Ich bin schließlich ein moderner Mann, also bekommst du auch ein modernes Geschenk von mir. Und das Veloziped ist der Fortschritt schlechthin, vor allem dieses hier. Die Reifen sind die neueste Erfindung – Luftreifen statt der bisherigen Metallreifen. Dank ihnen sitzt du weicher als in einem Schaukelstuhl. In ganz Berlin gibt es höchstens ein Dutzend solcher Velos, wenn überhaupt!« Die Brust des Unternehmers hob sich wie die eines Pfaues, der ein Rad schlägt. »Für meine Tochter nur das Beste, habe ich zu dem Verkäufer gesagt.« Beifallheischend schaute er von seiner Tochter hinüber zu seinem sprachlosen Publikum, das aus Jo, Clara und Lieselotte bestand.
    Im hochstehenden Sonnenlicht glänzte das Gefährt wie schwarze Seide. Josefine schluckte. So ein schönes Veloziped hatte sie noch nicht gesehen. Ihre Hände zitterten fast vor lauter Verlangen, das Gefährt genauestens zu untersuchen. Die Räder waren nicht die einzige Neuerung, erkannte sie: Dem Velo fehlte außerdem das Oberrohr des Rover , über das man sein Bein schwingen musste. Stattdessen verlief das stabilisierende Rohr in einer Art V zwischen dem Vorder- und dem Hinterrad. Josefine verstand sofort den Nutzen dieser neuartigen Konstruktion: Dank seines tiefen Einstiegs konnten auch Rockträgerinnen problemlos das Velo besteigen. Da die Räder außerdem von einer Art Drahtgeflecht überzogen waren, reduzierte sich die Gefahr, dass Rockstoff in die Speichen geriet und die Fahrerin dadurch ins Schlingern kam und hinfiel.
    Dieses Veloziped war speziell für eine Dame gebaut worden.
    Mit ungewohnter Leichtigkeit und ohne sich weiter um ihren mit vielen Spitzenbordüren verzierten Rock zu kümmern, bestieg Isabelle das Rad. Schreie des Entzückens ausstoßend, drehte sie eine erste Runde. Clara und Lieselotte klatschten Applaus.
    »Mit deinem weißen Kleid auf dem blitzenden Rösslein siehst du aus wie eine Prinzessin, wunderhübsch!«, rief Clara.
    »Eine Prinzessin? Das ist unsere Isabelle doch längst«, sagte Jeanette Herrenhus, die sich ebenfalls zu ihnen gesellt hatte. Sie trug ein taubenblaues Ausgehkostüm mit passendem Hut und sah sehr unternehmungslustig aus. »Ein wenig exzentrisch finde ich dieses neuartige Hobby ehrlich gesagt immer noch«, sagte sie zu ihrem Ehemann. »Aber wenn es wirklich so ist, wie du sagst, und Herren aus den feinsten Kreisen diesem Zeitvertreib frönen … Ich bin mir sicher, unsere Prinzessin wird äußerst interessante Bekanntschaften machen. Und vielleicht findet sie sogar den Prinzen fürs Leben.«
    Josefine schwieg. Unsere Prinzessin, Herren aus feinsten Kreisen, der Prinz fürs Leben  – was redete Frau Herrenhus für einen Unfug! Beim Velofahren ging es doch um ganz andere Dinge: um den Wind im Gesicht, um das Gefühl, der Welt davonfahren zu können, so wie Isabelle es auf ihrem eigenen Velo gerade tat.
    Tief in sich spürte Jo ein noch nie dagewesenes Verlangen aufkommen. Etwas Begehrliches, Leidenschaftliches. Neid. Solch ein Rad wollte sie auch.
    Endlich stieg Isabelle von ihrem Damenrad ab. »Tausend Dank, Vater«, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
    Moritz Herrenhus tätschelte seiner Tochter gönnerhaft die Schulter. Dann klatschte er in die Hände und sagte: »Und jetzt geht’s zu deiner Geburtstagsfeier. Deine Freundinnen nehmen wir mit, sie sollen auch einmal etwas Schönes erleben!«

    Die Fahrt mit der eigens für diesen Tag gemieteten vierspännigen Droschke, die Platz für acht Reisende bot, dauerte eine halbe Stunde und führte ostwärts durch die sommerliche Stadt. Die Straßen waren voller Passanten, alle schien es in die Gärten und Parks zu ziehen. Entlang der Spree waren besonders viele Berliner unterwegs.

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