Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Favoriten, die mit ihren Rädern im sandigen Oval der Rennbahn unterwegs waren, zuzujubeln.
»Willi, leg los!«
»Schneller, Joseph, schneller!«
»Weiter so, Karl-Heinz!«
Die Gäste waren allesamt gut angezogen, viele trugen feine Anzüge, sogar einen Herrn in Frack und Zylinder sah Josefine. Auch einige Damen waren da, alle mindestens so elegant gekleidet wie Jeanette Herrenhus. Obwohl die Herrschaften sie ein wenig einschüchterten, ließ sich Josefine von ihrer fröhlichen, ausgelassenen Stimmung anstecken. Sie hatte sich gerade dem Treiben auf der Rennbahn zugewandt, als Isabelle auf sie zukam.
»Vater hat ein paar Geschäftsfreunde eingeladen, ich muss gleich brav guten Tag sagen. Er lädt aber auch Clara, Lilo und dich zu einem Glas Sekt ein – ist das nicht toll? Und siehst du den Stand dort auf der Tribüne, wo meine Eltern stehen? Da gibt es Bockwürste und Fischbrötchen, einen Radler-Imbiss nennen sie das – so etwas habe ich noch nie gekostet!« Isabelle lachte erneut fröhlich auf. »Das ist eine Geburtstagsfeier ganz nach meinem Geschmack! Ich kann es kaum erwarten, Irene und den anderen morgen davon zu erzählen, die werden bestimmt grün vor Neid. Aber nun muss ich unsere Gäste begrüßen, sonst ist Vater mir gleich wieder gram.«
Statt Isabelle auf die überdachte Tribüne zu folgen, blieb Jo am Oval der Rennbahn stehen. Fasziniert schaute sie den Männern auf ihren Velos zu, wie sie eine Runde schneller als die andere fuhren. Fast alle saßen auf einem Rover Safety . Im Gegensatz zu den feingemachten Gästen trugen die Velozipedisten keine Anzüge, sondern kurze Hosen, Hemden und darüber enganliegende Westen. Dazu schmale Stiefel, die ihnen bis über den Knöchel gingen. Tief über den Lenker gebeugt, die Arme fast im rechten Winkel eng an den Körper gelegt, erreichten sie enorme Geschwindigkeiten. Jo blinzelte. Auf die Idee, in dieser gebeugten Haltung zu fahren, wäre sie nie gekommen.
»Na, hast du dir schon einen dieser Rennbahnhelden ausgeguckt?«, raunte eine Stimme mit ironischem Unterton in ihr rechtes Ohr. Im nächsten Moment legte Lilo ihr freundschaftlich einen Arm um die Schulter. »Eins muss man euch Berlinern lassen – hier kann man wirklich etwas erleben!«
Josefine lachte. »Die Willis und Josephs sind mir schnuppe, ihr Fahrstil interessiert mich dagegen umso mehr. Wie schnell sie dadurch sind!«
»Ob das allein an der gebeugten Haltung liegt? Im Gegensatz zu uns müssen sich die Herren nicht mit einem bauschigen Rock herumplagen. Außerdem: Das bisschen Stoff, das die Herren am Leib tragen, wiegt höchstens zehn Pfund, wohingegen unsere Kleider sicher dreimal so schwer sind«, sagte Lilo leise.
»Du hast recht.« Josefine seufzte inbrünstig. »Dennoch müssen wir froh sein, dass wir überhaupt zum Velofahren kommen.«
Schweigend schauten sie wieder den Fahrern zu. Einige der Velofahrer sind unbestritten sehr attraktiv, dachte Josefine. Vor allem ein großer blonder Bursche hatte es ihr angetan. Er schien mit seinem Velo regelrecht verwachsen zu sein und legte sich schnittiger in die Kurven als alle anderen. Bewundernd schaute sie ihm hinterher, doch er schien sie nicht zu bemerken.
Lilo beugte sich näher zu ihr und sagte im Flüsterton: »Soll ich dir etwas verraten? Seit neuestem leihe ich mir nicht nur das Velo von Unternehmer Braun aus, sondern auch noch eine alte Hose von ihm. Er trägt sie normalerweise, wenn er im Garten arbeitet, deshalb hat er sie auch im Schuppen deponiert, wo ich an sie herankomme.«
Einen Moment lang glaubte Josefine, sich verhört zu haben. Doch ein Blick ins Gesicht der Schwarzwälderin überzeugte sie vom Gegenteil.
Lilos Augen funkelten herausfordernd. »Glaub mir, es ist ein völlig neues Fahrgefühl! Und was noch viel besser ist: Wenn ich mir einen Hut aufsetze und einen Schal umbinde, in dem mein Kinn verschwindet, erkennt mich niemand mehr. Erst kürzlich bin ich am Morgen sogar meinem Lehrherrn auf der Straße begegnet – du weißt doch, ich darf eine Ausbildung zur Schwesterngehilfin in der neuen Pflegeanstalt machen. Als ich Doktor Jacob sah, ist mir vor Schreck fast das Herz stehengeblieben! Aber er hat mich wie einen Kurgast gegrüßt, mehr nicht.«
Eine Ausbildung zur Schwesterngehilfin. Velo fahren im Morgengrauen. Eine Reise nach Berlin zu ihrer Großtante Frieda – Lilo führte ein wahrlich aufregendes Leben. »Eins muss man dir lassen –«, sagte Jo in Anlehnung an Lilos Bemerkung von zuvor, »du hast
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