Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Kinder trieben eiserne Reifen mit Stöcken vor sich her oder ließen Papierschiffchen auf dem Wasser schwimmen, während ihre Väter Pfeife rauchend und mit ihrer Ehefrau am Arm das Ufer entlangstolzierten. Fliegende Händler hatten an besonders belebten Ecken Stände mit roter Grütze, Limonade und Gebäck aufgebaut und machten gute Geschäfte. Ein Kreuzer hier und einer da, und schon fühlte man sich wie ein feiner Herr oder eine feine Dame. Morgen würden alle wieder in ihren Fabriken verschwunden sein, das Dröhnen der Maschinen im Ohr, den Qualm der Motoren in der Nase. Aber heute, am Sonntag, wurde das Leben gefeiert.
Auch ein paar Velozipedisten entdeckte Josefine. Feine Herren, die in eleganten Straßenanzügen, mit Zylinder auf dem Kopf und seidenem Schal um den Hals, der Hitze trotzten. Einmal glaubte Jo eine Frau zu sehen, doch auf den zweiten Blick erkannte sie, dass auch dieser Fahrer eine Hose trug. Unter den teils neugierigen, teils bewundernden Blicken der Passanten fuhr er davon. Eine Frau hingegen wäre mit Steinen beworfen worden!
Misslaunig wandte Josefine ihren Blick von dem bunten Treiben ab. Der Frohsinn der anderen ließ sie ihre eigene schlechte Laune nur noch stärker empfinden.
»Zweihundertfünfzig Reichsmark hat das Velo gekostet«, dröhnte es in ihrem rechten Ohr. »Da siehst du mal, was du uns wert bist!«
»O Vater, du bist der Allerbeste.«
»So viel Geld«, hauchte Clara bewundernd. »Aber dank der neuen Konstruktion ist nun endlich auch schickliches Fahren für Damen möglich. Solch ein Gefährt ist wirklich nur etwas für die ganz reichen Leute.«
Moritz Herrenhus schaute die Apothekertochter beifällig an. »Isabelle lässt dich bestimmt auch einmal eine Runde damit drehen. Schließlich müssen sich die zweihundertfünfzig Mark ja lohnen.« Er lachte über seinen eigenen Scherz.
Clara hüstelte verlegen. »Vielleicht … leihen ja auch Sie mir noch einmal Ihr Rad. Dann könnten Isabelle und ich gemeinsam das Reigenfahren üben. Wir könnten die Velos mit Blumen und bunten Bändern schmücken.«
»Das wäre wirklich très chic!«, sagte Jeanette Herrenhus. »Es soll in Berlin inzwischen schon Theater geben, die solches Reigenfahren in ihr Bühnenprogramm einbauen. Sie versprechen Vorführungen der besonderen Art.«
Bunte Bänder auf dem Velo – die Blicke von Isabelle und Josefine trafen sich für einen Moment, und genauso lange einte sie ein Lächeln.
»Ihr Städter habt es gut. Solche technischen Neuerungen kommen in meiner Heimat immer erst mit Jahren Verspätung an. Wahrscheinlich hattet ihr schon Gaslampen zu einer Zeit, als wir noch mit dem Feuerstein hantierten«, sagte Lilo mit tragikomischer Miene.
Amüsiertes Gelächter ertönte.
Doch Jo ärgerte sich. Nicht genug, dass Clara heute so dumm daherredete, nun fing auch noch Lilo damit an. Sie hätte der Freundin gern entgegnet, dass deren Heimat ganz und gar nicht hinterwäldlerisch war – schließlich hatte sie ihr erstes Velo ausgerechnet in Schömberg gesehen! Doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Wenn Moritz Herrenhus allerdings noch ein einziges Mal betonte, wie teuer das Veloziped gewesen war, würde sie laut aufschreien. Sie schüttelte den Kopf wie ein gereiztes Pferd. Was war nur mit ihr los? Warum konnte sie nicht auch etwas Nettes zu Isabelle sagen? Oder zu ihrem Vater. Es war schließlich sehr freundlich von ihm, sie alle zu diesem Ausflug einzuladen. Du bist neidisch!, flüsterte ein kleiner giftiger Gnom ihr zu. Und Josefine hatte ihm nichts zu entgegnen.
Als sie den Osten Berlins endlich erreichten, war Josefine erleichtert. Keine Minute länger hätte sie Isabelles glückliches Gekicher ertragen. Ohne auf den Droschkenfahrer zu warten, stieß sie die Tür auf. Doch dann schaute sie sich ratlos um. Hier sollte sich die neue Attraktion Berlins befinden?
Nach Moritz Herrenhus’ Schilderungen hatte sich Josefine eine große Halle mit glatten Dielen vorgestellt. Einen leer geräumten Lagerschuppen. Oder auch einen Saal mit hohen Fenstern und hoher Decke. Tatsächlich jedoch lag die Radbahn unter freiem Himmel, begrenzt von einem halbhohen Zaun. Mit großer Geste bezahlte Moritz Herrenhus das Eintrittsgeld für seine kleine Gruppe und verkündete dabei lautstark, dass dieser Ausflug ein Geburtstagsgeschenk für seine Tochter sei. Außer der Kassiererin, einer dicklichen Frau mit grauem Dutt, hörte niemand hin – die anwesenden Zuschauer waren viel zu sehr damit beschäftigt, ihren jeweiligen
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