Solang die Welt noch schläft (German Edition)
wirklich Schneid. Was würde ich darum geben, auch mal wieder durch einen Wald fahren zu dürfen! Oder eine gerade Straße entlang in Richtung Horizont … Dieses Gefühl von Freiheit werde ich nie vergessen.«
»Warum tust du es dann nicht?«, erwiderte Lilo herausfordernd. »Ich würde vor Langeweile sterben, wenn ich nur im Kreis herumfahren müsste, ganz gleich, ob das auf einer solchen Radbahn geschieht oder im Hof von Isabelles Vater. Und dann dieses Reigenfahren, von dem Clara so schwärmt!« Sie verzog das Gesicht, als habe sie auf etwas Saures gebissen. »Ich habe etwas ganz anderes vor: Sobald Herr Braun wieder einmal für längere Zeit verreist ist, werde ich mir sein Velo leihen und damit ganz normal in Frauenkleidern von Schömberg nach Pforzheim fahren. Die Strecke habe ich mir schon ausgeguckt. Und dann wollen wir doch mal sehen, was die Leute dazu sagen.«
»Du willst was?«, fragte Josefine entsetzt und in solch einer Lautstärke, dass sie dafür irritierte Blicke der Umstehenden erntete. Auch einer der Radfahrer auf der Bahn, der direkt auf ihrer Höhe war, schaute zu ihr herüber. Dabei kam er dem Fahrer rechts neben sich gefährlich nahe, und die Vorderräder der zwei Velos berührten sich. Im nächsten Moment prallte der junge Mann an den Zaun. Es war der blonde Velofahrer, dem zuvor Josefines ganze Bewunderung gegolten hatte.
Erschrocken schlug sie beide Hände vor den Mund. »Du meine Güte, ist etwas passiert?«, fragte sie, beugte sich über den Zaun und sah in ein graugrünes Augenpaar, so faszinierend, wie sie noch keines gesehen hatte. Ein seltsames, nicht unangenehmes Gefühl durchfuhr sie. Blinzelnd wollte sie dem Gestürzten ihre rechte Hand reichen, doch er ignorierte sie und rappelte sich allein wieder auf. Gereizt wischte er sich den Staub von seiner Montur, dann warf er Josefine einen nicht gerade freundlichen Blick zu.
»Wie wäre es, wenn ihr euren Kaffeeklatsch woanders abhaltet? Hier geht es um ernsthaften Sport, falls ihr das noch nicht gemerkt habt.«
»Aber …« Verzweifelt suchte Josefine nach einer passenden Erwiderung. Doch der Bursche mit den schönen Augen bestieg sein Velo und fuhr davon, ohne weiter von ihr Notiz zu nehmen.
9. Kapitel
Das Unglück geschah eine Woche später.
Es war ein schwülwarmer Sommerabend. Im Westen der Stadt türmten sich Wolkenberge auf, hinter denen die Sonne schon lange verschwunden war. Ab und zu schoss ein gleißender Blitz über die Häuser, deren Außenwände aufgeheizt waren wie Backöfen. Kein Blatt bewegte sich, und in der Stille vor dem Sturm dröhnten die Maschinengeräusche aus den Fabrikhallen noch lauter als sonst in den Ohren der Mädchen. Bald würde das Gewitter losbrechen.
Schwitzend standen sich Isabelle und Josefine im Hof des Herrenhus’schen Anwesens im Abstand von gut einem Meter gegenüber. Jede hielt einen Besen in der Hand, dessen Bürstenenden sie zwischen sich kreuzten. Durch dieses »Tor« fuhren Clara und Lilo auf den beiden Velos hindurch. Diese Übung würde ihr Balancegefühl stärken, hatte Isabelle gemeint, als sie ihre Idee vortrug. Natürlich hatte sie die Aufgabe als Erste und mit Bravour gemeistert. Zuvor hatten sie außerdem schon versucht, in der gebückten Haltung der Bahnradfahrer zu fahren, was ihnen jedoch nicht behagte.
»Das ist ja gar nicht so schwierig«, juchzte Clara, als sie Moritz Herrenhus’ Velo wacklig, aber erfolgreich durch die Enge geschleust hatte.
»Dann machen wir es eben schwieriger«, antwortete Lilo und löste beide Hände vom Lenker. » Das stärkt nun wahrlich die Balance!« Mit erhobenem Kopf fuhr sie freihändig über den Hof.
»Mein neues Velo! Pass bloß auf!«, rief Isabelle ihr hinterher.
Erleichtert stellte Josefine den Besen zur Seite – ein Spalier war für diese neue »Übung« ja wohl nicht mehr nötig. Normalerweise hätte sie danach gegiert, es Lilo gleichzutun. Doch sie war müde, die Kleider klebten unangenehm an ihrem Leib, und ihre Arme schmerzten nach den langen Stunden in der Hufschmiedewerkstatt. Den ganzen Tag über war es drückend heiß gewesen, Josefine hatte mehr als einmal das Gefühl gehabt, wie das Eisen, das ihr Vater ins Feuer hielt, zu verglühen. Die Pferde waren gereizt, hatten ständig mit ihren Köpfen nach den Fliegen geschlagen. Ein brauner Wallach hatte Josefine grob in die Seite gestoßen, noch immer tat ihr ganzer Brustkorb weh.
Genug für heute! Sie würde noch ein Glas Limonade trinken und dann nach Hause gehen,
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