Solang die Welt noch schläft (German Edition)
verabschiedet. Von einem gemeinsamen Limonadetrinken war keine Rede mehr gewesen. Die ganze Nacht über hatten die Schmerzen sie gequält, aber noch schlimmer war das Gefühl gewesen, diesen attraktiven Mann auf eine ihr unerklärliche Art enttäuscht zu haben: Gerade eben noch war er so zuvorkommend und freundlich zu ihr gewesen und dann von einem Moment zum anderen so kühl und unnahbar, fast feindselig. Was hatte sie nur falsch gemacht? Enttäuscht und verwirrt zugleich war sie schließlich eingeschlafen.
Gerhard Gropius … Nicht nur in jener Nacht hatte sie von dem jungen Arzt geträumt. Wochenlang hatte sie sich nach seinen schönen Augen, seinen vollen Lippen verzehrt. Gesehen hatte sie ihn im Krankenhaus jedoch nicht mehr. Es hatte wohl nicht sein sollen, hatte sie sich immer wieder gesagt. Ein schwacher Trost.
Und nun … Vorhin an der Tür hatte sie fast der Schlag getroffen. Ihr Herz hatte so stark geschlagen, dass sie das Pochen oben am Hals spürte. Gleich werde ich ohnmächtig, hatte sie gedacht, doch es blieb ihr erspart. Zum Glück! Denn welchen Eindruck hätte das nun wieder hinterlassen … Auch er hatte sie wiedererkannt, das sah sie an seinen Augen. Ein leiser Seufzer kroch aus Claras Kehle.
»Die Wochen seit Doktor Fritsches Tod waren anstrengend, die Leute kamen einfach zu mir, wenn sie medizinischen Rat benötigten. Hätte meine Tochter mir nicht so hilfreich zur Seite gestanden …« Anton Berg zuckte mit den Schultern. »Ich wüsste nicht, ob ich die Arbeitslast bewältigt hätte.«
Die Rede ihres Vaters riss Clara aus ihren Gedanken. »Du übertreibst, Vater«, sagte sie liebevoll, fühlte sich aber gleichzeitig durch seine Worte geschmeichelt. Krampfhaft überlegte sie, mit welcher Bemerkung sie das Wort an ihren Gast richten und von sich selbst ablenken konnte.
»Dass es der Kundschaft gefällt, wenn Ihr hübsches Fräulein Tochter höchstpersönlich Medikamente für sie verpackt oder die Tür aufhält, glaube ich sofort. Bei so viel Liebreiz kommt sicherlich manch ein Herr täglich vorbei, um Hustenbonbons oder Schnupftabak zu kaufen, nicht wahr?« Der junge Arzt warf Clara einen gefälligen Blick zu, unter dem sie sogleich aufs Neue errötete. Er fand sie also liebreizend?
»Liebes Fräulein Clara, wenn Sie mir versprechen, dass Sie höchstpersönlich mich bedienen, werde ich gleich morgen früh auch auf einen Sprung in Ihrer Apotheke vorbeikommen.«
Sie würde ihn wiedersehen, gleich morgen! »Sehr gern«, sagte sie leise und strich verlegen über den leicht knittrigen Rock. Verflixt, warum war sie bis zur letzten Minute in der Apotheke geblieben, statt ein wenig Zeit auf ihr Aussehen zu verwenden? Unauffällig knabberte sie an ihrer Unterlippe, um ihr ein wenig mehr Farbe zu verleihen.
»Nun, da Sie hier der neue Herr Doktor sind, werden Sie und Clara sich bestimmt öfter über den Weg laufen.« Sophie Berg strahlte übers ganze Gesicht, als wäre sie für diesen Umstand höchstpersönlich verantwortlich. »Noch etwas Tee? Und Kekse?« Zuvorkommend hielt sie dem jungen Mann die blankpolierte Silberschale hin.
»Sie sind eine sehr liebenswürdige Gastgeberin, verehrte Frau Berg.« Er nahm einen Zimtkeks aus der Schale. Mit jungenhaftem Appetit biss er hinein.
Eifersüchtig sah Clara zu ihrer Mutter hinüber – musste sie Doktor Gropius derart in Beschlag nehmen?
»Hausfrauliche Tugenden sind bei einer Dame das A und O«, flötete Sophie Berg. »Aus diesem Grund haben wir unsere Clara auch ein ganzes Jahr lang auf die beste Haushaltsschule geschickt, die es in Berlin gibt.«
»Wo ich mich fast zu Tode gelangweilt habe«, ergänzte Clara lachend. »Aber dieser Schrecken hatte ja Gott sei Dank ein Ende. Kekse backen und Tee servieren kann ich auch ohne solchen Unterricht.« Lächelnd hangelte sie über den Tisch nach der Teekanne, dann schenkte sie Gerhard Gropius mit gekonntem Schwung nach. »Sie mögen doch?«
Sophie Berg öffnete den Mund, als wollte sie etwas erwidern, überlegte es sich dann aber anders.
Anton Berg räusperte sich. »Verzeihen Sie, wenn meine Worte vorhin den falschen Eindruck erweckt haben sollten«, sagte er an seinen Gast gewandt, »aber Sie dürfen nicht glauben, dass wir unsere Tochter zu einfältigen Hilfsarbeiten oder gar Putzarbeiten in der Apotheke nötigen, so etwas würden wir von unserem Kind nie verlangen. Vielmehr versuche ich, Clara so manches beizubringen. Mit Erfolg, wenn ich das so sagen darf – Claras Heilsalben werden
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