Solang die Welt noch schläft (German Edition)
wieder aus der Apotheke geholt, um diese oder jene Frage bezüglich des Abends mit ihr zu erörtern. Dass der Laden voller Kunden war, interessierte Sophie Berg weniger als die Frage, welche Tischdecke hübscher aussah – die aus Plauen oder die von ihr handgearbeitete. Mit jeder Unterbrechung hatte sich die Nervosität der Mutter mehr auf sie übertragen. Hoffentlich würde Fritsches Nachfolger nicht ewig bleiben, dachte sie nun. Und hoffentlich hielt er nicht wie einst der alte Arzt stundenlange Monologe über seinen Dienst während des Deutsch-Französischen Kriegs. Sie war müde, und vom langen Stehen taten ihr die Beine weh. Außerdem hatte sie noch etwas Wichtiges zu tun … Gierig streifte ihr Blick die auf der Anrichte liegenden Unterlagen, die der Postbote heute für sie gebracht hatte: die Statuten der Jenaer Universität, ein Regelwerk über die Aufnahme von Studenten und weitere Informationen, die vielleicht wichtig für sie sein könnten …
Clara setzte ein bemühtes Lächeln auf und öffnete die Tür. Im nächsten Moment war die Universität Jena vergessen.
» Sie? «
»Man hatte mir im Diakonissenkrankenhaus gerade erst einen Chefarztposten angeboten, als ich die Anzeige in der Zeitung sah – Nachfolger gesucht!« Über den Rand seiner Teetasse schaute Gerhard Gropius erst ihre Eltern, dann Clara an. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Ein fiebriger Blitz durchfuhr sie, und hastig schaute sie beiseite. Oh, wie gut sie sich an diese braunen Augen erinnerte …
»Ein Chefarztposten?«, hauchte Sophie Berg bewundernd. »Und eine solche Karriere geben Sie für unser Viertel auf?«
Gerhard Gropius bedachte seine Gastgeberin mit einem einnehmenden Lächeln. Seine Lippen waren genauso weich gezeichnet und voll, wie Clara sie in Erinnerung hatte.
»Die Entscheidung fiel mir zugegebenermaßen nicht leicht.«
Gropius sollte Doktor Fritsches Nachfolger werden? Die Gedanken wirbelten wie Blätter im Herbstwind in Claras Kopf herum.
Anton Berg sah nachdenklich drein. »Als angestellter Arzt im Krankenhaus konnten Sie über Ihre freie Zeit verfügen, wie es Ihnen beliebte. Als niedergelassener Arzt mit eigener Praxis werden Ihre Patienten über Ihre Zeit bestimmen.« Er lachte. »Den alten Fritsche haben die Leute jedenfalls ständig mitten in der Nacht aus dem Bett geholt. Auch meine liebe Gattin tat dies mehr als einmal, nicht wahr, Sophie?«
Clara warf ihrem Vater einen düsteren Blick zu – musste das sein?
»Es ging immer nur um das Wohl unserer Tochter«, sagte ihre Mutter säuerlich. Als sie sich ihrem Gast zuwandte, wurde ihr Ton jedoch gleich wieder zuckersüß. »Dafür hat Doktor Gropius sicher das größte Verständnis.«
Der junge Arzt griff über den Tisch nach Sophie Bergs Hand und drückte sie kurz. »Das wahre Mutterherz ist stets in Sorge um seine Lieben. Vor allem wenn es sich um eine solch entzückende junge Dame handelt wie Ihr Fräulein Tochter.« Er lächelte Clara an, die daraufhin einer Ohnmacht nahe war.
Es war im letzten Sommer gewesen – nach ihrem Sturz vom Veloziped hatte man sie ins Diakonissenkrankenhaus gebracht. Ihr gebrochenes Bein war untersucht und dann geschient worden – dass sie einen Sturz vom Velo erlitten hatte, behielt sie dabei für sich. Auf den Ärger, den ihr diese Wahrheit eingebracht hätte, konnte sie wahrlich verzichten. Und so glaubte ihre Mutter bis heute, dass sie sich den Bruch auf dem Weg zu Isabelles Haus zugezogen hatte. Am Anfang waren die Schmerzen unerträglich gewesen. Bettruhe und dann nur leichte Bewegung in den nächsten vier Wochen hatten die Ärzte ihr verschrieben. Nach nur einer Woche im Krankenhaus hatte sie sich zu Tode gelangweilt. Leichte Bewegung? Dazu zählte doch gewiss ein Spaziergang im begrünten Hof des Krankenhauses! An einem lauen, süß duftenden Sommerabend – ihre Eltern hatten sich gerade nach ihrem Krankenbesuch verabschiedet – machte sie sich auf den Weg. Bis in den Garten war sie allerdings nicht gekommen, denn am Ende des langen schmalen Flures entdeckte sie die Krankenhausbibliothek. Neugierig lugte sie hinein und sah die langen, gut gefüllten Bücherregale. Der Raum war menschenleer, kein Arzt hatte sich an diesem schönen Abend dorthin verirrt. Lauter Fachliteratur zu medizinischen Themen … Begierig waren erst ihre Augen, dann ihre Finger über die Bücher geglitten: Die Bewegungs- und Sinnesvorstellungen der Menschen in ihren Beziehungen zu seiner Großhirnoberfläche von C.
Weitere Kostenlose Bücher