Solang die Welt noch schläft (German Edition)
wäre! Denn wenn Adele oder eine von ihrem Gefolge daherkam und sich vor einem aufbaute, waren die meisten rasch bereit, ihre Ration herauszurücken. Auch Josefine war das eine oder andere Mal nichts anderes übriggeblieben, einer Rangelei aus dem Weg zu gehen war ihr ein Stück Brot meist wert. Aber heute sah die Sache anders aus, heute knurrte ihr Magen viel zu sehr. Über den Tisch hinweg fixierte sie die Widersacherin mit einem scharfen Blick. Wage es nicht, mich anzufassen!, hieß dieser.
»Mir ist schlecht. Wenn ich auch nur einen Bissen mehr von dem verkohlten Zeugs esse, muss ich mich übergeben«, flüsterte Martha neben ihr. »Magst du?«
Noch vor wenigen Wochen hätte Josefine den angeknabberten Brotkanten angewidert abgelehnt. Heute steckte sie ihn zu der Schrippe in ihre Rocktasche.
»Frisst du nun auch schon der Martha das Essen weg?«, rief Adele ihr über den Tisch zu. »Die Junge muss für zwei essen, da wäre es angebracht, dass du ihr etwas abgibst und nicht umgekehrt.«
Josefine verzichtete auf eine Erwiderung. Sprechen war bei Tisch verboten, die Aufseherinnen kannten keinen Spaß. Wenn sie eine von ihnen erwischten, folgte die Strafe auf dem Fuße, und die Schwätzerin musste zusätzlich zu ihrer regulären Arbeit noch beim Müllverbrennen helfen, beim Latrinenputzen oder dabei, Fettpfannen zu spülen. Nur Adele setzte sich ständig über das Sprechverbot hinweg und kam damit ungeschoren davon. Adele mit ihren kalten Augen … Manchmal hatte Josefine das Gefühl, selbst die Wärterinnen hatten Angst vor ihr. Josefine selbst hatte keine Angst, eher war ihr die andere mit ihren ständigen Schikanen lästig. Was wollte Adele eigentlich mit ihrer herrschsüchtigen Art beweisen? Dauernd ging es ihr darum, nur ja nirgendwo zu kurz zu kommen. Den besten Bissen zu ergattern. Oder den besten Platz. Deshalb verstand Josefine auch nicht, was die Bemerkung mit Martha gerade zu bedeuten hatte – bestimmt war sie nur dazu angetan, sie zu ärgern. Was für ein Blödsinn! Täten sie nicht alle besser daran zusammenzuhalten? Als ob das Leben hinter Gittern nicht schon schwer genug war!
Stille Nacht, heilige Nacht – von wegen.
Wenn wenigstens Gerd Melchior hier gewesen wäre und sie ein paar Stunden bei ihm in der Werkstatt hätte verbringen können, schoss es Josefine durch den Kopf. Dass der Hausmeister für ein paar Tage zu seinem Sohn gefahren war, der sonst wo lebte, trug zusätzlich zu ihrer Missstimmung bei. Wenn sie mit Melchior Hand in Hand arbeitete, verging die Zeit viel schneller als sonst. Und manches Mal vergaß sie sogar, wo sie war.
Die Oberaufseherin der Jugendabteilung, eine kräftige Frau mittleren Alters, erschien in der Tür des Speisesaals. Sofort erstarb auch das leiseste Flüstern.
»Ein paar von euch haben Weihnachtspost bekommen. Ich rufe die Namen in alphabetischer Reihenfolge auf und ihr tretet gesittet und eine nach der anderen zu mir nach vorn!«
Josefine spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Post! Ob sie auch einen Brief bekam? Vielleicht von ihren Eltern?
Nur vier Namen wurden aufgerufen, dann war ihrer an der Reihe. Mit zittrigen Beinen ging sie nach vorn. Die Oberaufseherin überreichte ihr zwei Briefe. Von ihren Eltern war keiner dabei, dafür stammten die Schreiben von Clara und Frieda. Selig drückte Josefine die beiden Umschläge an ihre Brust. Nachricht von Frieda. Es war das erste Mal, dass die alte Freundin ihr schrieb. Bei Isabelles und Claras Besuch hatte Josefine die Apothekertochter gebeten, Frieda auszurichten, wie leid ihr, Josefine, alles tat. Und dass ihr ganz elend war beim Gedanken, wie sehr sie Frieda und alle anderen enttäuscht hatte. Ob Clara ihrem Wunsch je nachgekommen war, wusste sie nicht. Vielleicht würden die Briefe darüber Aufschluss geben? Vorsichtig, als handele es sich um feinste Spitze, fuhr Jo mit dem Zeigefinger über den zugeklebten Kuvertrand. Ob sie es wagen konnte, zumindest schon einmal Claras Brief zu öffnen?
»Gelesen wird später!« Die Stimme der Oberaufseherin schoss wie ein Pfeil durch den Raum. »Ab mit euch in den Unterricht! Glaubt nicht, dass hier Müßiggang einreißt, nur weil heute Heiliger Abend ist.«
Heiligabend. Andere Männer räumten an diesem Vormittag Schnee vom Gehsteig vor dem Haus, damit die Familie nachmittags unbehelligt den Kirchgang antreten konnte. Dann war der Holz- oder Kohlevorrat an der Reihe, der eimerweise für den Abend ins Haus geschleppt wurde. Andere wiederum legten vielleicht
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