Solang die Welt noch schläft (German Edition)
inzwischen sogar besser als die meinen.«
»Vater …« Verlegen senkte Clara den Blick. Erst Mutter mit ihrer Haushaltsschule, nun auch noch der Vater – glaubten beide so dringend, ihre Vorzüge Gerhard Gropius anpreisen zu müssen? Sicher, sie wollte ihm auch gefallen. Aber doch nicht auf solch offensichtliche Weise! Allmählich bekam sie eine Ahnung davon, wie sich Isabelle auf den Bällen, zu denen ihr Vater sie schleppte, fühlen musste.
Unter gesenkten Lidern schaute sie zu Gerhard Gropius hinüber, und prompt trafen sich ihre Blicke. War es zuvor auch schon so schrecklich warm hier im Salon gewesen? Clara jedenfalls fühlte sich erhitzt, fast fiebrig, als ob eine Erkältung im Anmarsch sei.
»Was wahr ist, muss wahr bleiben, mein liebes Kind«, sagte ihr Vater und tätschelte ihre Hand. Dann wandte er sich wieder Gerhard Gropius zu. »Um ehrlich zu sein, anfangs konnte ich selbst nicht glauben, dass eine junge Dame Talent für den Apothekerberuf aufweisen kann. Aber meine Clara hat mich eines Besseren belehrt.« Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Inzwischen kann ich mir sogar vorstellen, dass Clara zu den ersten jungen Damen gehören wird, die in der biologisch-pharmazeutischen Fakultät der Universität Jena zu Studierzwecken angenommen werden. Jedenfalls diskutieren die gelehrten Herren gerade das Für und Wider einer solchen Möglichkeit. Sollte es zu einem positiven Befund kommen, werde ich Clara in ihrem Wunsch ganz sicher unterstützen.«
»Ihre Tochter will studieren?« Abrupt legte Gropius seinen angebissenen Keks auf dem Teller ab. Im selben Ton hätte er auch fragen können: »Ihre Tochter will auf den Mond fliegen?«
Clara kicherte verlegen, fasste sich aber sogleich wieder. »Nun ja … Es ist so«, hob sie an. Doch bevor sie zu weiteren Erklärungen kam, schnitt ihre Mutter ihr das Wort ab.
»Hirngespinste!«, sagte Sophie Berg schrill und warf ihrem Mann einen bösen Blick zu. »Anton, ich muss doch sehr bitten. Mit deinen Reden erweckst du in der Tat einen falschen Eindruck bei unserem Gast. Am Ende glaubt Doktor Gropius noch, unsere Tochter sei einer dieser Blaustrümpfe, denen zwar ihre Studien über alles gehen, die jedoch von den einfachsten Dingen wie dem Sockenstricken nichts verstehen.«
»Warum müssen wir eigentlich ständig über mich reden?«, fragte Clara bitter. »Viel interessanter ist doch, welche Pläne Doktor Gropius für seine Praxis hat.«
Doch statt auf ihren Einwand einzugehen, wandte sich der junge Arzt an ihre Mutter.
»Liebe Frau Berg, nie würde es mir in den Sinn kommen, Ihre liebenswerte Clara mit einer dieser verbiesterten Furien vergleichen zu wollen! Es ist schändlich, wie manche junge Damen die neuen Moden unserer Zeit für unlautere Zwecke missbrauchen, aber Ihre Tochter sicher nicht. Ich finde es wundervoll, wenn eine junge Frau ihren Eltern so hilfreich zur Seite steht, wie Fräulein Clara es in der Apotheke tut. Zu viel Betriebsamkeit ist in meinen Augen hingegen nicht angebracht, deshalb hätte ich einen ganz speziellen Vorschlag zu machen.« Er lächelte verschmitzt, dann wandte er sich direkt an Clara: »Ob ich Sie wohl einmal auf eine Tasse Kaffee einladen dürfte? Auf meinem Weg hierher habe ich am Ende der Straße ein hübsches Café entdeckt, vielleicht gelingt es mir, Sie ein wenig von der vielen Arbeit abzulenken.«
14. Kapitel
Früher hatte sie zusehen müssen, genügend zu essen zu bekommen, um Kraft und Ausdauer fürs Velofahren zu haben. Heute musste sie zusehen, genügend Essen zu bekommen, um nicht ganz abzumagern, dachte Josefine, während sie eine trockene, leicht verkohlte Schrippe in ihre Rocktasche stopfte. Schwarzbrotscheiben, Schrippen aus grobem Mehl, eine fad schmeckende Marmelade dazu und Kamillentee – aus mehr bestand ihr tägliches Morgenmahl nicht. Auch nicht heute, am Heiligen Abend. Eine Ausnahme gab es dennoch, denn entweder war der Bäcker verliebt oder der Ansicht gewesen, dem hohen Fest etwas Besonderes dadurch zu verleihen, dass er sämtliche Backwaren verbrennen ließ. Trotzdem langte Jo gierig noch einmal in den Brotkorb, der in der Mitte des langen Tisches stand. Bestimmt hat Mutter wie jedes Jahr für Weihnachten die runden Pfefferkuchen gebacken, dachte sie sehnsüchtig, während alle an ihrem Tisch bemüht waren, so viel Essen wie möglich an sich zu raffen. Nicht, dass das Essen, welches man auf dem eigenen Teller liegen hatte oder das man am Leib bei sich trug, sicher gewesen
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