Solang die Welt noch schläft (German Edition)
letzte Hand an den Schreinerarbeiten an, die sie für ihre Kinder im Laufe der vergangenen Monate gefertigt hatten. Einen Puppenwagen für das Mädchen. Und einen Wagen mit zwei Holzpferden für den Jungen. Höchstwahrscheinlich gab es auch den einen oder anderen Mann, der sich nicht mit familiären Pflichten aufhielt und die Stunden bis zur Ankunft Jesu bei einem Frühschoppen verbrachte. In der Bierschenke um die Ecke. Doch bei diesem hing dann garantiert der Haussegen schief!
Und er? Was tat er an diesem heiligsten aller Feste?
Karlheinz Krotzmanns Gesicht war eine versteinerte Maske, als er die langen Gefängnisgänge entlanglief. Wie immer war es so kalt im Hauptgebäude des Frauengefängnisses, dass sein Atem als kleines Wölkchen in der verbrauchten Luft stehen blieb.
Er hatte kein Haus, vor dem er hätte Schnee räumen müssen. Er hatte auch keine Familie, sondern wohnte noch immer bei Frau Krawutschke zur Untermiete. Ein Zimmer, im Winter mehr schlecht als recht geheizt, Damenbesuch unerwünscht. Für den Abend hatte die alte Hexe ihn und die zwei anderen Untermieter – beides verstaubte alte Knochen – zum Essen eingeladen. Wofür sie Dankbarkeit bis in alle Ewigkeit erwartete, mindestens aber eine Schachtel Pralinen und andere Nettigkeiten. Krotzmann hatte zugesagt – essen musste er ja schließlich, und die meisten Gasthäuser hatten heute geschlossen –, aber er würde nicht länger als nötig bleiben. Als er vorhin das Haus verließ, roch es im Flur schon nach Rotkohl. Sogleich waren Visionen von Gänsebraten und Kartoffelknödeln in ihm erwacht, was seine Laune fast ein wenig gehoben hätte. Doch dann hatte er sich ans letzte Weihnachtsfest erinnert und daran, dass es der alten Krawutschke gelungen war, den Rotkohl zu einer dunkelbraunen, breiigen Masse zu verkochen, deren Anblick allein ihm den Magen umdrehte.
Vielleicht sollte er sich doch eine Alternative für den Abend überlegen. An einem der Berliner Bahnhöfe hatte bestimmt irgendeine Bierschenke geöffnet, und belegte Brote oder Eintopf gab es dort allemal. Der Gedanke, wählen zu können und nicht auf Frau Krawutschkes Angebot angewiesen zu sein, heiterte ihn kurz auf. Schwungvoll drückte er die Klinke zum Klassenzimmer hinunter.
Doch beim Anblick der verhassten Gesichter verflüchtigte sich der Hauch von guter Laune sogleich wieder. Wie sie herumlungerten, die elenden Heiden.
»Guten Morgen«, sagte er gepresst. Sein Blick wanderte durch das Fenster nach draußen, wo leise Schneeflocken herabrieselten. Und wieder dachte er an die Männer, die für ihre Familien den Hof freischippten.
Die nächsten Minuten verbrachte er wie jeden Morgen damit, den jungen Mädchen eine ordentliche Sitzhaltung beizubringen. Hopfen und Malz war bei solchen verloren, ging es ihm währenddessen durch den Sinn, und genau das hatte er, wenn auch in nicht ganz so deutlichen Worten, in seinem letzten Bericht ans Schulministerium geschrieben. Nicht, dass man ihm dort für seine Einschätzung dankte! Man frage sich, ob er der Richtige sei für eine solch fortschrittliche Einrichtung wie die Jugendabteilung des Frauengefängnisses, hatte er zur Antwort bekommen. Man benötige einen Mann mit Vorstellungskraft, einen, dem es gelänge, die vom Weg abgekommenen Jugendlichen zu leiten und zu führen, ja, zu stärken für ein neues, ein besseres Leben.
Krotzmanns Schultern versteiften sich schmerzhaft. Sollten sie ihn doch abziehen von diesem Posten! Sollte sich doch ein anderer – einer mit mehr Vorstellungskraft – mit diesen jungen Dingern herumärgern. Doch davon war keine Rede gewesen, vielmehr hatte sich der Referent des Schulministeriums in seitenlangen Ergüssen darüber ausgelassen, welch bahnbrechende Einrichtung die Jugendabteilung aus pädagogischer Sicht darstelle und dass er, Krotzmann, für die Ehre, an solch einem Fortschritt teilhaben zu dürfen, dankbar sein müsse. Am Ende hatte es noch einen kurzen Passus darüber gegeben, dass man unter den gegebenen Umständen seine Vergütungsklasse leider nicht anheben könne und dass man seinen nächsten Bericht in einem halben Jahr erwarte.
Seinen nächsten Bericht! Über den man wieder enttäuscht sein würde? Na, vielen Dank.
»Die Schultern müssen eine parallele Linie aufweisen! Wie oft muss ich euch das noch sagen?« Krotzmann spürte, wie die Wut auf den überheblichen Beamten, dessen Namen er vergessen hatte, erneut in ihm hochkroch. Vor lauter Unmut hatte er das Schreiben zerrissen,
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