Solang die Welt noch schläft (German Edition)
sonst hätte er noch einmal nachschauen können, wie der arrogante Kerl geheißen hatte. Hatte der Mann sich jemals gefragt, wie er, Krotzmann, bei seinem mickrigen Salär je eine Familie unterhalten sollte? Und wie er einer anständigen jungen Dame erklären sollte, dass er seine Tage im Gefängnis verbrachte? Mit dem Lehrerberuf konnte man die meisten Frauen beeindrucken, das erlebte Krotzmann immer wieder. »Oh, ein Herr Lehrer sind Sie?«, hieß es, und diese Aussage wurde begleitet von einem anerkennenden Heben der Augenbrauen. Manchmal veränderte sich sogar der Blick, mit dem man ihn bedachte – Bewunderung und Respekt konnte Karlheinz Krotzmann dann auf dem Gesicht seines Gegenübers lesen. Doch damit war es aus und vorbei, sobald er erzählte, wo er arbeitete. Nämlich nicht in einem feinen Lyzeum oder Gymnasium, sondern im Frauengefängnis in der Barnimstraße. »Im Gefängnis?«, riefen die einen entsetzt, gerade so als säße er selbst hinter Gittern. Die anderen sagten nichts, aber in ihrem Blick, in dem gerade noch Bewunderung gelegen hatte, machte sich Abscheu breit. Seinen Erklärungen, dass es sich um ein bahnbrechendes pädagogisches Experiment handelte, wollte niemand folgen.
Nach gut zehn Minuten hatte er die Horde so weit, dass sie einigermaßen ordentlich auf ihren Stühlen saß. Bis auf die schwangere Hure, die mit ihrem dicken Bauch herumlungerte wie ein Sack nasser Wäsche. Er bellte ihr einen scharfen Verweis zu, woraufhin sie sich aufrappelte. Martha – so hießen Verbrecherinnen oft, das hatte er schon gemerkt. Martha, Adele und Karla. Eine Lisbeth oder eine Sophie wurde seltener zur Totschlägerin. Vielleicht sollte er das in seinem nächsten Bericht vermerken? Er würde die Hure jedenfalls im Blick behalten, nahm er sich vor. Dann sagte er mit erzwungener Milde in der Stimme: »Heute ist Weihnachten, und wir feiern die Ankunft des Herrn. Zu seinen Ehren werde ich euch ein Gedicht beibringen. Ihr werdet es in Schönschrift schreiben, im Chor aufsagen und dann auswendig lernen. Gnade derjenigen, die es am Ende der Stunde nicht einwandfrei wiedergeben kann!«
Die Worte des Lehrers plätscherten an Jo vorbei wie ein Rinnsal, das gern ein Wildbach geworden wäre, es aber mangels Wasserzufuhr nie geschafft hatte. Am liebsten hätte sie in ihre Rocktasche gefasst und die beiden Briefe gefühlt, doch sie behielt die von Krotzmann gewünschte Haltung bei. Es war besser so. Dabei konnte sie es kaum erwarten, die Briefe zu lesen …
»… Ich kenn drei gute, deutsche Gesellen
Mit großen Händen und Beinen schnellen;
Mit dicken Säcken auf breiten Buckeln
Stampfen sie eilig durchs Land mit Gehuckel;
Haben Eis im Bart und grimmige Art,
Aber Augen gar milde;
Führ’n Äpfel und Nüsse und Kuchen im Schilde
Und schleppen und schleppen im Huckepack
Himmeltausendschöne Sachen im Sack …«
Zeile für Zeile sprachen die Schülerinnen das Gedicht, das Krotzmann vortrug, nach. Auch Josefine bewegte die Lippen. Unter niedergeschlagenen Lidern linste sie dabei unauffällig aus dem Fenster – eine Kunstfertigkeit, die sie im Laufe der Wochen perfektioniert hatte. Wenn sie in den Winterhimmel mit dem leichten Schneegeriesel sah, konnte sie für wenige Momente die Gitter vor dem Fenster vergessen.
Himmeltausendschöne Sachen ? Sie wollte nichts hören von Weihnachten!
Das Fest hatte schon lange vor dem Gefängnisaufenthalt seinen Reiz für sie verloren. Als Felix gestorben war, war auch ihr Glauben an den lieben Gott gestorben.
»… Ich kenn drei gute, deutsche Gesellen
Mit großen Händen und Beinen schnellen;
Mit dicken Säcken auf breiten Buckeln
Stampfen sie eilig durchs Land mit Gehuckel;
Haben Eis im Bart und grimmige Art,
Aber Augen gar milde;
Führ’n Äpfel und Nüsse und Kuchen im Schilde
Und schleppen und schleppen im Huckepack
Himmeltausendschöne Sachen im Sack …«
»Mir ist so schlecht«, flüsterte Martha neben ihr.
Josefine schaute ihre Nachbarin an. Ihr Gesicht war knochenbleich, die Augen hatten einen glasigen Ausdruck, ihre Lippen waren blutleer und rissig. Je weiter ihre Schwangerschaft fortschritt, desto mehr verkümmerte Martha. Aber man musste nicht glauben, dass dies auch nur eine Seele interessierte.
»Zähl bis hundert, vielleicht vergisst du dabei deine Übelkeit«, raunte sie. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Krotzmann zu fragen, ob Martha den Unterricht verlassen durfte, konnte sie sich schenken.
Im nächsten Moment stand er neben ihrem
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