Solang die Welt noch schläft (German Edition)
gegenübersitzen? Mit wehem Herzen las sie weiter:
Doktor Gropius ist ein feiner Mensch, die Patienten lieben ihn. Das Wartezimmer seiner Praxis ist schon jetzt von früh bis spät überlaufen. Aber das ist auch kein Wunder, denn er hat eine wunderbare Art, mit den Menschen umzugehen. Er nimmt sich Zeit für sie, schenkt ihnen sein Ohr. Und er schickt seine Patienten wie sein Vorgänger zu uns in die Apotheke, was Vater natürlich freut. Manchmal kommt Gerhard Gropius auch selbst vorbei. Liebste Jo, du kannst dir nicht vorstellen, wie mein Herz dann schlägt! Viel sagen kann ich in seiner Gegenwart auch nicht, vor lauter Aufregung fallen mir nicht einmal mehr die einfachsten Sätze ein, ich komme mir dann vor wie eine dumme Gans.
Gerhard hingegen hat immer etwas zu erzählen. Von seinem Studium und seiner Zeit im Krankenhaus. Ach, er ist einfach wundervoll …
Und jetzt kommt das Beste: Letzte Woche hat Gerhard mich in die Konditorei Ratsmann zu Kaffee und einem Stück Mohnkuchen eingeladen. Vor Aufregung bekam ich kaum einen Bissen herunter. Ich würde essen wie ein Spatz, sagte er. Und dass die viele Arbeit mich zu sehr erschöpfen würde, sagte er auch noch. Ich bräuchte mehr Abwechslung! Deshalb will er im Frühjahr viel mit mir spazieren gehen. Vielleicht hat er recht und ich arbeite wirklich zu viel? Meine Abendlektüre, bestehend aus medizinischen Büchern, lasse ich zur Sicherheit nun erst einmal ruhen.
Ach Josefine, ich kann mein Glück gar nicht fassen. Ein so kluger und gutaussehender Herr macht ausgerechnet mir den Hof. Und was mache ich? Ich stricke ihm einen Schal zu Weihnachten, dass er es bei seinen Hausbesuchen mollig warm hat. Wie ärmlich! Mutter hingegen ist der Ansicht, dies wäre eine schöne Geste, die »der Herr Doktor«, so nennt sie Gerhard nur, gewiss zu schätzen wisse. Ich glaube, sie hört schon die Hochzeitsglocken läuten! Und wenn ich ehrlich bin, könnte mir diese Vorstellung auch gut gefallen. Ach Jo, ich bin so glücklich …
Jo ließ den Briefbogen sinken. Liebe Clara, wie gern wäre ich bei dir! Stundenlang würde ich mir geduldig deine Schwärmereien anhören und wie sehr verliebt du bist … Ein Schluchzer entwich ihrer Kehle.
Adele schaute auf. »Du fängst doch wohl nicht wegen irgendeines Briefes an zu plärren?«
Jo warf der anderen einen unfreundlichen Blick zu, dann faltete sie Claras Brief fein säuberlich zusammen und steckte ihn ein.
»Was ich mache, geht dich gar nichts an.«
Friedas Brief bestand nur aus einem Bogen Papier, der jedoch vorn und hinten dicht beschrieben war. Er roch nicht nach Parfüm, sondern nach Scheuerpulver und dem Krautfass, das Frieda im Keller hatte.
Mein liebes Kind, aus der Ferne wünsche ich dir frohe Weihnachten! Leider kann ich dich nicht besuchen, da mir wieder einmal meine Beine das Gehen schwermachen. Der neue Doktor sagt, es wäre Gicht. Ich sage, es ist das Alter. So haben wir schon die ersten Differenzen … Aber ich verzeihe ihm, denn er hat so ein hübsches Gesicht.
Außerdem gibt es etwas, was viel schlimmer ist als die Schmerzen in meinen Beinen: der Gedanke, dass du wie die gewöhnlichen Huren im Weibergefängnis eingesperrt bist! Dass es dazu gekommen ist, werde ich mir nie verzeihen. Hätte ich nur besser auf dich aufgepasst! Da habe ich mir meine Zeit mit allerlei Firlefanz vertrieben, und dabei habe ich die größte und wichtigste Aufgabe, die mir das Leben stellte, übersehen – nämlich die, dich auf deinem Weg zum Erwachsenwerden zu begleiten. Dir hilfreich zur Seite zu stehen, nicht nur mit klugen Worten, sondern auch mit Taten – das wäre wahrlich sinnvoll gewesen. Ich hätte dafür kämpfen müssen, dass du eine bessere Arbeit findest als die in der Hufschmiede deines Vaters. Ich hätte dich bei mir aufnehmen sollen. Du und ich unter einem Dach, das wäre schön gewesen. Stattdessen habe ich dich offenen Auges in dein Unglück rennen lassen.
Die kantigen Buchstaben aus schwarzer Tinte verschwammen vor Josefines Augen. Sie blinzelte heftig, bevor sie weiterlas.
Liebes Mädchen, eins verspreche ich dir: Wenn du deine Zeit abgesessen hast, werde ich für dich da sein, ohne Wenn und Aber. Ich werde dich nicht mehr im Stich lassen, das schwöre ich, so wahr mir Gott helfe. Im Augenblick bleibt mir jedoch nichts übrig, als dir auf diesem Weg ein frohes Fest zu wünschen.
Frieda, liebste Frieda … Jo drückte den Brief an ihre Wange, als könne sie dadurch der alten Freundin nahe sein. Sie fühlte
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