Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Morgen danach Rede und Antwort stehen, was die Auswahl der jungen Männer betraf. Endlich konnte sie wieder tun und lassen, was sie wollte! Dass sie sich ab und zu mit Adrian treffen musste, um die Scharade auch wirklich glaubhaft zu spielen, war ein kleiner Preis, den sie gern zu zahlen bereit war.
Mit einem übermütigen Lächeln schaute Isabelle ihren »zukünftigen Verlobten« an, und Adrian lächelte verhalten zurück. In Berlin-Halensee stiegen sie aus.
Das hier war also der »1. Berliner Velozipeden-Verein«. Isabelles Augen wurden, je mehr sie sich umschaute, immer größer. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie geglaubt, sich auf dem eleganten Gelände einer Pferderennbahn zu befinden – so weitläufig und großzügig präsentierte sich der Radverein der Herren.
»Unsere Radrennbahn«, sagte Adrian und zeigte auf das riesige Oval vor ihnen. »Sie wurde nach den neuesten Erkenntnissen in der Technik und im Radrennsport gebaut. Eine Bahnlänge des Ovals beträgt genau 333,3 Meter, nicht mehr und nicht weniger. Diese Länge hatte sich in vielen Versuchen als die optimalste herausgestellt. Und auch die Krümmung der Kurven wurde sorgfältig berechnet, unter Einbeziehung der Zentrifugalkraft und anderer Kriterien. Die Materialien des Bodenbelags wurden danach ausgesucht, dass wir Fahrer außer dem Luftwiderstand nur noch die geringstmögliche Reibung überwinden müssen. Geschwindigkeit, Größe, durchschnittliches Gewicht der Fahrer, die Tangentialkräfte – die Ingenieure haben wirklich alles berücksichtigt, um eine optimale Rennbahn zu bauen. Und … es ist ihnen gelungen!«
Isabelle nickte, als hätte sie seine technischen Ausführungen vollständig verstanden. »Anlässlich meines Geburtstags vor zwei Jahren hat mich mein Vater auch auf eine Velobahn eingeladen, sie lag irgendwo im Osten Berlins. Es gab dort einen Würstchenstand und Sekt, aber dies hier wirkt so viel professioneller!«
Adrian lachte. »Die Bahn kenne ich auch. Bin sie ein paarmal gefahren, aber dort treiben sich eher die Aufschneider herum als diejenigen, die den Radrennsport wirklich ernst nehmen, so wie wir es tun.« Er zeigte mit der rechten Hand auf einen schmalen Anbau entlang der Längsseite des Ovals. »Gleich da vorn ist der Raum, in dem wir unsere Velos deponieren. Daneben liegen praktischerweise unsere Umkleidekabinen. Sogar ein Badezimmer und einen Frottiersaal haben wir, so dass man nach den Rennen seinen Pokal wie aus dem Ei gepellt entgegennehmen kann. Auf den Luxus eines Badezimmers bestand übrigens mein Vater, der zu den Gründungsmitgliedern des Vereins gehört. Da hatte er einmal eine wirklich gute Idee.« Adrian lachte. »Dort drüben, auf den offenen Tribünen, finden übrigens 550 Zuschauer Platz. Aber im Sommer, wenn die großen Rennen stattfinden, dürften es auch doppelt so viele Plätze sein – so groß ist der Andrang!« Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Und was sind das für kleine überdachte Räume neben den offenen Tribünen?«, fragte Isabelle und strich sich über die perfekt zurechtgemachte Frisur.
»Links liegt die Richtertribüne und rechts der Musikerpavillon – auch darauf hat mein Vater bestanden. Ein Radrennen ohne einen zünftigen Marsch als Auftakt ist für ihn unvorstellbar.« Adrian klang ironisch.
Isabelle runzelte die Stirn. Gottlieb Neumann als Geldgeber für Badezimmer, einen Musikerpavillon und womöglich noch mehr solche Spielereien – war das nicht alles ein wenig übertrieben? Allmählich konnte sie nachvollziehen, wie der Unternehmer in finanzielle Schwierigkeiten geraten war …
»Ich bringe dich jetzt hinein, in unserem Vereinsheim kannst du dich mit einer Tasse Kaffee aufwärmen, während ich ein paar Runden fahre«, sagte Adrian und hielt ihr galant seinen Arm hin. »Vielleicht kommt Irene später auch noch, sie schaut uns gern beim Radfahren zu.«
Isabelle verdrehte im Geist die Augen. Auf Adrians arrogante Schwester konnte sie nun wirklich verzichten.
Drinnen angekommen, wurde der Unternehmersohn von seinen Vereinskameraden stürmisch begrüßt. Alle freuten sich, dass Adrian endlich wieder in Berlin war. Von Isabelle nahm niemand Notiz, die Männer waren viel zu sehr damit beschäftigt, dem jungen Mann wichtige Neuigkeiten zu eröffnen. Namen von ihr unbekannten Radfahrern flogen ebenso durch die Luft wie Termine von überaus wichtigen Radrennen. Die Männer waren so voller Begeisterung, dass es gute fünf Minuten
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