Solang die Welt noch schläft (German Edition)
sich auf einmal ganz leer vor Einsamkeit und Kummer. Ohne Rücksicht auf die Kälte ließ sie sich auf den Boden sinken. Erschöpft zog sie die Beine an, umfasste sie mit den Armen und legte ihren Kopf in das so entstandene Nest. Sie machte sich keine Mühe, gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen. Salzige Tropfen sammelten sich in ihren Mundwinkeln. Leise weinte sie vor sich hin.
»Nun heulst du doch«, sagte Adele verächtlich. »Heulen ist was für Memmen.«
»Na und?«, fuhr Jo schluchzend auf. »Dann bin ich eben eine Memme!«
»Nee, bist du nicht! Sonst hättest du dich vorhin nicht für Martha eingesetzt. Sie ist eine Memme, aber du nicht.«
»Woher willst du das wissen? Du weißt gar nichts von mir. Außerdem heule ich, wann es mir gefällt«, fauchte Jo und wischte sich mit der Hand über Augen und Nase. Was für eine Frechheit!
Adele grinste. »Jetzt hast du aber schon wieder damit aufgehört.«
Josefine stutzte. Tatsächlich. Vor lauter Wut über Adeles Sprüche waren ihre Tränen versiegt. »Brauchst dir gar nicht einzubilden, dass das was mit dir zu tun hat«, sagte sie trotzig.
Die nächsten Stunden verbrachten sie schweigend. Außer einem gelegentlichen Husten oder Nasehochziehen war nichts zu hören. Es war Adele, die das Schweigen schließlich brach.
»Ich muss mal.«
Jo runzelte die Stirn. Sie auch. »Tu dir keinen Zwang an«, sagte sie mit einer Leichtigkeit, die sie nicht empfand. Dann drehte sie sich zur Wand. Hinter ihrem Rücken durchbrach das Plätschern von Adeles Urin auf den Boden des Blecheimers die Stille. Mit einem Seufzen ließ sich die Bandenanführerin danach wieder auf den Boden plumpsen.
Ohne ein weiteres Wort stand auch Josefine auf, um sich über dem Eimer zu erleichtern. Die Kälte, ihr Gefühlsausbruch und alles andere hatten sie so ausgelaugt, dass sie den Punkt, Scham zu verspüren, längst überschritten hatte. Als sie ihren Rock wieder zurechtrückte, ertastete sie die zwei Schrippen, die sie am Morgen eingesteckt hatte. Es kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor. Unwillkürlich begann ihr Magen laut zu knurren.
Sie zog beide Stullen – die angebissene von Martha und die unberührte – aus der Tasche. Nach einem kurzem Moment hielt sie die unversehrte Stulle Adele hin.
Die zögerte nur kurz. »Danke.«
Selten sagte ein Wort so viel wie dieses.
Als der nächste Morgen anbrach und sich die Tür zum Kerker mit einem lauten Quietschen öffnete, schreckte Josefine auf. Zu ihrem eigenen Erstaunen hatte sie tief und fest geschlafen.
Eine fremde Wärterin stellte einen Eimer auf dem Boden ab. Dann warf sie vier Scheiben Graubrot in die Mitte des Raumes. In der Geste lag so viel Verachtung, dass es Josefine gleich wieder fröstelte.
»Euer Morgenmahl. Und Wasser zum Waschen.« Ohne ein weiteres Wort verschwand die Wärterin wieder.
Mit schmerzenden Gliedern setzte sich Josefine auf. Immerhin – sie lebte noch. Adele hatte sie nicht hinterrücks über Nacht gemeuchelt, wie sie es für einen Augenblick befürchtet hatte. Die andere lag noch immer mit dem Gesicht zur Wand und rührte sich nicht. Auch gut. Es war sicher das Beste, den Moment für einen drängenden Toilettengang zu nutzen, beschloss Josefine. Als sie mit einigem Grauen zum Latrineneimer ging, stellte sie mit Schrecken fest, dass der Urin, den sie am Tag zuvor gelassen hatten, über Nacht eine leichte Frostschicht angesetzt hatte.
Mit bangem Herzen wusch sich Josefine anschließend in dem Wassereimer, dann flocht sie ihre Haare auf und kämmte sie notdürftig mit den Fingern durch.
Das Brot war eisig. Als Josefine davon abbiss, schmerzten ihre Zähne.
Verflixt, davon, dass es im Kerker so kalt war, hatte bisher noch niemand erzählt, dachte sie, während sie die Brotscheibe zwischen ihren Händen anzuwärmen versuchte. Somit konnte sie also die über diesen Raum kursierenden Schreckensgeschichten um eine weitere Variante bereichern. Aber wahrscheinlich war das ewige Frieren in den Augen der anderen nichts gegen den Umstand, dass sie es zehn Tage mit Adele auf derart engem Raum würde aushalten müssen. Noch immer tat sie keinen Mucks. Unsicher beugte sich Josefine zu ihr hinab und fragte: »Sag mal, lebst du noch?«
Sie bekam lediglich ein leises Knurren zur Antwort.
Zwei Nächte später fing Josefine an zu husten. Der Husten machte ihr Angst. Er erinnerte sie an die Zeit nach Felix’ Tod. Außerdem fühlte sich ihre Stirn warm und trocken an, wie Papier, das zu lange in der Nähe eines Ofens
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