Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
jeder Droschkenkutscher ein Beispiel nehmen.«
Die folgenden Monate vergingen wie im Flug. Georg, Feodora und Ida ließen keine Einladung aus, weder in Königsberg noch zu den zahlreichen Jagden. Sie genossen das Leben, und Ida machte zum Entsetzen ihrer Eltern keinerlei Anstalten, sich zu verheiraten. Alle Anträge lehnte sie ab. »Es muss auch späte Mädchen geben«, sagte sie, wenn ihre Mutter meinte, es sei nun wirklich an der Zeit, eine Familie zu gründen. »Feda will auch nie mehr heiraten. Dann reisen wir beide eben später als alte Jungfern um die Welt.«
Frau Henkiel schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Was hatte sie nur für ein aufsässiges Kind!
1890
E
s war Mitte März. Die Sonne schien schon seit Tagen von einem wolkenlosen Himmel, und die Erde roch bereits nach Frühling. Georg wartete auf Feodora. Letzte Nacht war es mal wieder reichlich spät geworden, vor allem sehr »feucht«, wie Georg sich auszudrücken pflegte. Da das Barometer weiterhin schönes Wetter versprach, hatten sie verabredet, heute mit der Kutsche einen Ausflug nach Gut Carolinenhof zu machen, um die dort stattfindende Pferdeausstellung und die neu geborenen Fohlen anzuschauen. Der Gestütsmeister Friedrich von Lützow, ein Freund der Goelders, erwartete sie nach der Besichtigung noch zu einem Mittagessen.
»Dass diese Frau nie pünktlich sein kann«, murmelte Georg ungehalten. »Das bringt mich zur Weißglut.«
In dem Moment stürmte Feodora herein. Sie musste gerannt sein, denn sie ließ sich völlig außer Atem in einen Sessel fallen. »Ida will heiraten!«, rief sie.
Georg verschlug es für einen Augenblick die Sprache. »Du beliebst zu scherzen. Als sie uns vor zwei Wochen besuchte, war doch noch kein Kandidat in Sicht. Wo kommt der denn so plötzlich her, hat sie ihn auf der Straße aufgelesen?«
»Nein, beim Schmidt.«
»Bei welchem Schmidt?«
»Na, dem Fotografen in Insterburg.«
»Aha, und wer ist der Glückliche?«
»Ein Albert Lackner aus Lindicken.«
»Nein … ich glaube es ja nicht! Der Albert. Er ist ein guter Freund unserer Familie, ich kenne ihn seit meiner Kindheit. Er hat sich erst kürzlich in Insterburg als Anwalt niedergelassen und vertritt Carl bereits in verschiedenen Angelegenheiten.« Georg schüttelte ungläubig den Kopf. »Es ist wirklich ein Witz, dass weder du noch Ida ihn bislang getroffen hat. Er ist häufig Gast bei uns in Weischkehmen.«
Während der Fahrt durch die Stadt hatte Feodora keinen Blick für das Erwachen der Natur. Als sie durch den Kürassierwall fuhren, sah sie weder das zarte Grün der Linden noch am Ufer des Ober-Teiches die kleinen Köpfe der Krokusse, die sich der Sonne entgegenstreckten. Sie konnte an nichts anderes denken als an ihre Freundin, die, wie Feodora meinte, offenen Auges in ihr Unglück rannte. »Es wäre ein Coup de Foudre , sozusagen Liebe auf den ersten Blick, gewesen, schreibt sie. Wie will sie denn nach so kurzer Zeit wissen, ob er der Richtige ist? Ich sage dir, Georg, Ida hat den Verstand verloren.« Feodora war den Tränen nahe.
»Also nun übertreibst du aber. Albert ist ein fabelhafter Mann aus einer sehr guten Familie. Er ist mit Sicherheit nicht die schlechteste Wahl.«
Sie passierten jetzt den Exerzierplatz der Kürassierställe. »Sieh nur«, rief Georg, »man exerziert für die sonntägliche Parade. Wollen wir anhalten und ein wenig zuschauen?«
»Nein, lass uns weiterfahren«, sagte Feodora unlustig.
Kurze Zeit darauf fuhren sie durch das Rossgärter Tor, und bald erreichten sie Gut Carolinenhof. Während des Rundgangs und auch bei dem anschließenden Mittagessenwar Feodora einsilbig, stocherte in ihrem Essen herum und schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein.
Die Männer unterhielten sich angeregt über die neuesten politischen Ereignisse. »Hast du gehört, dass Bismarck nicht mehr Reichskanzler ist?«, fragte Georg seinen Freund Friedrich von Lützow.
»Ja, es soll in Berlin unsägliche Intrigen gegeben haben. Graf Eulenburg, dieser Hinterlader, soll der Drahtzieher gewesen sein.«
Georg und Feodora wechselten einen kurzen Blick.
»Bismarck hat zuerst seinen Rücktritt eingereicht, und zwei Tage später hat der Kaiser ihn entlassen. Eine Schande ist das!« Lützow war empört. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Feodora noch kein Wort gesprochen hatte. »Bist du krank, Feda?« Er schien ernsthaft besorgt. »Du redest sonst doch wie ein Wasserfall, und heute scheinst du deine Sprache verloren zu haben, genauso wie deinen
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