Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
offensichtlich ein Zeichen, dass sie akzeptiert waren, und bald wurden sie in die Unterhaltung einbezogen.
Lovis stellte Feodora einen blassen Jüngling vor. »Das ist Hilmar Kessler, einer unserer begabtesten Lyriker.«
Der junge Mann errötete, doch er begann sich angeregt mit Feodora zu unterhalten. Irgendwann fragte er, ob Georg ihr Ehemann sei.
»Nein, er ist seit meiner Jugend mein bester Freund. Ich bin verwitwet und werde mit Sicherheit nie mehr heiraten.«
»Sehr glücklich scheinst du ja nicht gewesen zu sein.« Wie selbstverständlich gebrauchte er das Du. Und ohne eine Antwortabzuwarten, fuhr er fort: »Betrachte dein erstes Leben einfach als einen schlechten Scherz, und nimm dein neues als heiteren Zeitvertreib.«
»Das ist die Wahnmochinger Philosophie«, sagte Gabriel von Seidl, der sich zu ihnen gesetzt hatte, lachend. »Der Kreis um Anna ist enorm«, fügte er hinzu. »Wussten Sie, dass sie die Tochter des Dichters Scheurlin ist?«
»Nein«, sagte Feodora. Auch warum diese kleine, dicke Frau so enorm sein sollte, war ihr ein Rätsel.
Seidl schien mal wieder Gedanken zu lesen. »In Wahnmoching redet man einen gewissen Jargon, den müssen Sie lernen, sonst werden Sie nie dazugehören. Eines der wichtigsten Wörter ist enorm. Enorm ist der Superlativ der Superlative. Eine Frau kann schön sein, intelligent, fabelhaft, aber wenn sie enorm ist, dann ist es das Größte.«
Seine Ausführungen wurden von der Ankunft eines jungen Mannes mit einem glatt rasierten Gesicht und auffallend hellen Augen unterbrochen. Er trug seinen schwarzen Mantel wie eine Toga um die Schultern und eilte, flüchtig nach rechts und links grüßend, durch den Raum in den hinteren Salon, eilig die Tür hinter sich schließend.
»Das war der Meister«, flüsterte Hilmar Kessler andächtig.
Feodora sah ihn fragend an.
»Stefan George, der Dichter! Kennst du ihn nicht? Er gehört zum Kosmischen Kreis.«
Schon wieder ein Kreis! Bevor Feodora fragen konnte, was es nun mit diesem Kreis auf sich hätte, erhob Hilmar sich. »Entschuldige, Feodora, ich muss Anna fragen, ob der Meister geruht, mich zu empfangen.« Kurze Zeit später verschwand er mit verklärtem Gesicht hinter der verschlossenen Tür.
»Der Meister, wie er sich von seinen Jüngern nennen lässt, gilt als besonders enorm«, sagte Seidl.
»Und was ist so toll an ihm?« Feodora war wenig beeindruckt.
»Er gilt als bedeutender Lyriker. Ehrlich gesagt, kann ich aber nicht viel mit ihm anfangen.«
»Feda, hast du den Meister gesehen?« Georg kam aufgeregt aus einem der anderen Zimmer hereingestürzt. »Er soll eben angekommen sein.«
»Ja, ganz kurz. Er ist da hinten verschwunden.«
»Ich muss ihn unbedingt kennenlernen!« Georg war ungewohnt erregt. So kannte Feodora ihn gar nicht. »Ich möchte ihm meine Gedichte vortragen. Ich habe seine Blätter für die Kunst abonniert. Er ist einfach genial.«
»Nein, enorm!«, sagte Feodora spöttisch. »Hier in Wahnmoching ist alles enorm.«
Georg ließ sich nicht irritieren. »Ich muss Anna fragen, ob sie mich ihm vorstellt. Ihn kennenzulernen, ist ein Herzenswunsch von mir. Zu gern würde ich wissen, was er von meinen Gedichten hält.«
»Ich fürchte, heute wird das nicht möglich sein«, sagte Seidl grinsend. »Der Herr George ist, wie wir gerade gesehen haben, beschäftigt.« Als er Georgs enttäuschtes Gesicht sah, meinte er: »Wenn Sie noch eine Weile hierbleiben, wird sich eine neue Gelegenheit ergeben.« Gabriel von Seidl war sich sicher, so wie der junge Ostpreuße aussah, würde schon von ganz allein das Auge des Meisters wohlgefällig auf ihn fallen und er bald in den Kreis seiner Jünger aufgenommen werden.
Feodora und Georg genossen ihren Aufenthalt in Wahnmoching. Sie feierten bacchantische Feste, kein Tag vergingohne eine Einladung zu einem Atelier- oder Kostümfest, einem »Jour« oder einer Vernissage. Feodora taumelte von einer Liebschaft in die nächste, während Georg zu seinem Entzücken bald zu dem Kreis von Stefan Georges Jüngern gehörte, alles junge Lyriker, die verklärt zu ihrem Meister aufblickten.
1900
D
ie Jahrhundertwende feierte Feodora bei Ida und Albert. Seitdem dieser Präsident der Anwaltskammer in Königsberg war, hatten sich seine gesellschaftlichen Verpflichtungen ungemein vergrößert, und so war der Ball in der Villa Lackner am Garwehner Teich das Ereignis des Jahres, über das der ganze Landkreis noch lange sprach. Ein Feuerwerk hatte es gegeben, wie es die
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