Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
Feodora unangenehm zu werden.
»Ihr müsst mich retten, wenn er wiederkommt«, sagte sie zu ihren Freunden, und jedes Mal, wenn er sich ihrem Tisch näherte, sprang einer der Jungen auf und tanzte mit ihr davon.
Einige Tage später begleitete Fräulein von Pulkendorf sie nach Königsberg in das Mädchen-Institut von Quasten. Während der ganzen Zugfahrt sprach Feodora kaum ein Wort. Nur einmal sagte sie: »Weißt du, Julchen, am liebsten würde ich ausreißen. Aber leider weiß ich nicht, wohin.«
Leonie von Quasten, eine unverheiratete Adlige aus dem Baltikum, hatte die Schule mit Hilfe einer kleinen Erbschaft gegründet und leitete sie seit über zwanzig Jahren äußerst erfolgreich. »Willkommen in unserem Haus, Feodora«, begrüßte sie ihre neue Schülerin. »Ich habe eine kleine Überraschung für dich. Heute Morgen, als ich dich nach der Morgenandacht als Neuankömmling ankündigte, stellte sich heraus, dass seit kurzer Zeit eine Freundin von dir bei uns ist.«
Feodora sah Fräulein von Pulkendorf erstaunt an. Dann rief sie: »Ida, das kann nur Ida Henkiel sein! Julchen, das ist ja wunderbar.«
»Ja, und da uns gerade eine Schülerin verlassen hat, ist in dem Zimmer ein Bett für dich frei.«
Von einem Tag auf den anderen änderte sich Feodoras Leben radikal. Nachdem sie sich tränenreich von ihrer Gouvernante verabschiedet hatte – nicht, ohne der das Versprechen abgenommen zu haben, ihr regelmäßig zu schreiben und sie sooft wie möglich zu besuchen –, hatte Fräulein von Quasten ihr die Regeln des Hauses erklärt. »Pünktlichkeit ist oberstes Gesetz«, sagte sie, »sowie Höflichkeit gegenüber den Lehrkräften und Mitschülerinnen. Und Post ist nur von Verwandten oder Freundinnen erlaubt. Kontakte zu Herren jeglichen Alters sind strengstens untersagt.«
»Welche Herren? Ich kenne niemanden in Königsberg.«
Fräulein von Quasten lächelte milde. »Das kann sich schnell ändern, mein Kind. Also, wenn du dich an die Regeln hältst, werden wir gut miteinander auskommen.«
Feodora merkte bald, dass es besser war, sich an die Vorschriften zu halten.
Am Abend erzählte ihr Ida, dass das Mädchen, in dessen Bett sie jetzt schlief, die Schule verlassen musste, weil es sich heimlich mit einem Kadetten getroffen hatte. »Sie hat gar nichts gemacht, ist nur im Schlosspark ein paar Schritte mit ihm spazieren gegangen«, berichtete Ida aufgeregt. »Aber irgendjemand hat es Fräulein von Quasten gepetzt, und am nächsten Tag musste die Arme nach Hause fahren.« Ida erzählte weiter, dass auch kleinste Vergehen mit Ausgehverbot oder zehn Seiten »Schönschrift« bestraft würden. »Wenn du freche Antworten gibst oder ständig unpünktlich bist, teilen sie das den Eltern mit, oder noch schlimmer: Du bekommst Ausgehverbot oder darfst an deinem freien Wochenende nicht nach Hause fahren. Also es ist besser, du hältst dich daran.«
Aber Feodora musste bald feststellen, dass an dem Mädchen-Institut auch häufig gelobt wurde. Wer sich durchGehorsam, Liebenswürdigkeit oder Bescheidenheit auszeichnete, wurde einmal in der Woche während einer der gemeinsamen Teestunden offiziell von Fräulein von Quasten belobigt und durfte sich vor aller Augen in das Goldene Buch des Instituts eintragen. Mit hochrotem Kopf saß dann das ausgezeichnete Mädchen da und schrieb in ihrer schönsten Schrift ihren Namen, verziert mit Blümchen oder Vögelchen. Diese Ehre wurde Feodora allerdings nicht ein einziges Mal zuteil. Immer war sie ein wenig zu spät, manchmal im Unterricht etwas vorlaut, und es wollte ihr einfach nicht gelingen, ihre Schreibhefte mit der gewünschten Schönschrift zu füllen. Aber für einen richtigen Tadel reichten ihre Verfehlungen zum Glück nie, und so konnte sie alle vier Wochen nach Hause oder mit Ida nach Klein Darkehmen fahren.
Es dauerte nur wenige Tage, da hatte sich Feodora in der Schule eingelebt. Sie war bei den Schülerinnen beliebt. Einige bewunderten sie wegen ihres Temperaments und ihrer Schönheit und versuchten, sie als Freundin zu gewinnen, aber Feodora ließ außer Ida niemanden zu nahe an sich heran. Sie war ihre Herzensfreundin. Die Lehrkräfte verblüffte sie mit ihren Kenntnissen in Französisch, Geografie, Kunst und Musik, was zweifellos ein Verdienst von Fräulein von Pulkendorf war. Neue, für sie unbekannte Fächer kamen nun hinzu, wie Naturwissenschaften und Arithmetik. Die Mädchen sollten eine möglichst breit gefächerte Allgemeinbildung erhalten.
Aber eines der obersten
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