Solang es Träume gibt: Das Leben einer ostpreußischen Gräfin (German Edition)
eine gute Nachricht.«
Am Ende der Woche war Carla total erschöpft. »Es ist so herrliches Wetter, Julchen. Lass uns bloß morgen Mittag wie üblich Troyenfeld besuchen«, sagte sie. »Ich brauche frische Luft und mal ein anderes Thema als Hanno. Wenn wir nicht hier sind, geben die Leute ihre Visitenkarte ab, damit haben sie ihrer Pflicht Genüge getan, und ich muss mich nicht ununterbrochen bemitleiden lassen.«
Der Sonntag war wieder ein strahlender Tag. Nur ab und zu verdunkelte ein Schwarm nordwärts ziehender Vögel kurz den wolkenlosen Himmel. Carla und Julia trabten gemächlich in Richtung Troyenfeld. Bevor sie in die Schlosseinfahrt einbogen, zügelte Carla ihr Pferd. »Ist er nicht traumhaft, dieser Blick in das Pregel-Tal? Seitdem ich denken kann, hat sich hier nichts verändert. In all den Jahren in Neuseeland hatte ich immer dieses Bild vor Augen.« Ihr Blick schweifte nach links in den verwilderten Park. Erst jetzt, nachdem der letzte Schnee geschmolzen war, sah sie das ganze Ausmaß des Verfalls. »Sieh nur, Julia, die gelben Blümchen, die aus dem Mauerwerk der Terrasse wachsen und … wie schrecklich … die wunderschönen Marmorbüsten, überwuchert von Moos!« Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Ich fasse es nicht! Die Kieswege … die sind ja ganz grün vom Unkraut. Wie hat Leopold es nur so weit kommen lassen können.«
»Ja«, sagte ihre Freundin traurig. »Ich habe den Verfall miterlebt. Von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer.«
»Ich bin richtig froh, dass mein Hanno das nicht mehr erleben muss.« Traurig lenkte Carla ihr Pferd in Richtung Schlossportal.
Kurz nachdem sie angekommen waren, meldete Alfons: »Herr Graf, Frau Gräfin, der Baron von Harden ist da.«
Mit ausgebreiteten Armen ging Natascha ihm entgegen.
Ein untersetzter, dicklicher Mann eilte auf sie zu und küsste ihr beide Hände. »Sie sehen ja wieder bezaubernd aus, Natascha«, rief er überschwänglich.
»Mein lieber Heinrich, wie schön, Sie zu sehen.« Sie wandte sich zu Carla und Julia. »Darf ich euch unseren Freund Heinrich von Harden vorstellen? Das sind meine Schwägerin Baronin von Harvich und ihre Gesellschafterin Fräulein von Pulkendorf. Meine arme Schwägerin ist gerade Witwe geworden.«
Carla schwante Böses. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wollte man sie etwa mit diesem kleinen Walross verkuppeln? Ihrer Schwägerin traute sie alles zu!
Bei Tisch betrachtete Carla aufmerksam diesen neuen Freund, dessen Namen sie noch nie gehört hatte. Sein Gesicht ähnelte einer faltigen Kugel. Hängebacken und Tränensäcke sowie der große Mund mit den welken Lippen ließen auf einen ausschweifenden Lebenswandel schließen. Nach einigen Gläsern Wein begann er zu schwitzen. Mit einem riesigen weißen Taschentuch, in das zu groß und unübersehbar eine siebenzackige Krone eingestickt war, wischte er sich ständig über Gesicht und Halbglatze. Ein Neureicher … wie schrecklich … ein Parvenü , dachte Carla abfällig. Was findet Natascha bloß an ihm?
Die Unterhaltung war lebhaft. Man unterhielt sich darüber, dass Friedrich Wilhelm, erst seit ein paar Wochen neuer Kaiser, sehr krank sein sollte. »Er hat Kehlkopfkrebs«, sagte Julia. »Die Kaiserinmutter ist sehr besorgt.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Heinrich von Harden interessiert.
»Meine Freundin ist mit der Kaiserinmutter verwandt«, warf Carla ein.
Der neue Freund ihrer Familie war sichtlich beeindruckt.
Natascha war ungewohnt heiter. Sie scherzte, lachte und schlug Heinrich von Harden hin und wieder mit ihrem Spitzentaschentuch neckisch auf die große behaarte Hand, während Leopold still und in sich gekehrt wirkte.
»Heinrich hat einen wunderbaren Besitz in Masuren«, sagte Natascha. »Mit den herrlichsten Pferden. Und eine riesige Jagd.«
»Es wäre mir ein Vergnügen, die Damen einmal dorthin einzuladen«, wandte sich Heinrich von Harden an Carla und Julia. »Wann immer es Ihnen beliebt.«
»Danke, sehr freundlich«, sagte Carla. Sie wollte schnell das Thema wechseln. »Wir haben kürzlich Feda besucht, sie wird immer hübscher. Kennen Sie eigentlich meine Nichte, Herr von Harden?«
»Flüchtig, nur ganz flüchtig.« Wieder fuhr er sich mit seinem Taschentuch über die schweißnasse Stirn.
Es schien Carla, als wechselten Natascha und Leopold einen kurzen Blick. Da fiel ihr ein, dass sie ja von Feodora etwas ausrichten sollte. »Ach, übrigens habe ich, euer Einverständnis voraussetzend, ihr erlaubt, das nächste freie Wochenende mit Ida
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