Solange am Himmel Sterne stehen
ein Dutzend Jahre mit einem Mann verbracht, der dich nicht so geliebt hat, wie ein Mensch verdient, geliebt zu werden«, sagt Gavin, »und den du vielleicht auch nicht so geliebt hast, wie du jemanden lieben solltest. Ihr hattet euch arrangiert.«
»Vielleicht«, sage ich leise.
»Und ich glaube, jedes Mal, wenn ein Mensch verletzt wird, bildet sich eine neue Schicht um sein Herz, weißt du? Wie ein Schutzschild oder so. Du wurdest oft verletzt, habe ich recht?«
Ich schweige einen Augenblick.
»Entschuldige«, sagt Gavin. »War das zu persönlich?«
»Nein«, sage ich. »Ich glaube, du hast recht. Es war, als ob nichts, was ich getan habe, je gut genug war. Nicht nur bei Rob. Auch bei meiner Mom.« Ich breche ab. Das habe ich noch nie zu jemandem gesagt.
»Das tut mir leid«, sagt Gavin.
»Es ist lange her«, murmele ich. Auf einmal wird mir das Gespräch unangenehm; ich fühle mich nicht wohl dabei, Gavin diese Dinge zu erzählen und ihn so in meinen Kopf zu lassen.
»Ich sage ja nur, ich denke, je mehr Schichten sich um dein Herz legen, desto schwieriger wird es, jemanden zu erkennen, in den du dich wirklich verlieben könntest«, sagt er langsam.
Seine Worte wirken einen Augenblick nach, und ich fühle mich seltsam atemlos. »Vielleicht«, sage ich. »Oder vielleicht öffnet man, wenn man oft verletzt wurde, endlich die Augen für die Wirklichkeit und hört auf, von Dingen zu träumen, die es nicht gibt.«
Gavin schweigt kurz. »Vielleicht«, sagt er schließlich. »Aber vielleicht täuschst du dich auch. Vielleicht gibt es sie doch. Würdest du mir nicht recht geben, dass deine Großmutter im Laufe ihres Lebens oft verletzt wurde?«
»Natürlich.«
»Und Jacob Levy bestimmt auch?«
»Ja, bestimmt«, sage ich. Ich denke an all das, was die beiden verloren haben – ihre Familien, das Leben, das sie einmal kannten, einander. Was könnte verletzender sein, als wenn einem die ganze Welt den Rücken kehrt, während all die Menschen, die man liebt, in den Tod getrieben werden? »Ja«, sage ich noch einmal.
»Na ja, dann sollten wir sehen, ob wir ihn finden«, sagt Gavin. »Jacob. Und dann können wir ihn fragen. Und deine Großmutter.«
»Falls sie aufwacht«, sage ich.
» Wenn sie aufwacht«, sagt Gavin. »Du musst optimistisch bleiben.«
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Wie kann man optimistisch bleiben, wenn die Zeit so unaufhaltsam voranschreitet? Ich seufze. »Okay«, sage ich. »Das heißt, wir werden die beiden einfach fragen, ob es die wahre Liebe gibt?« Ich hasse es, so zu klingen, als machte ich mich über ihn lustig, aber er klingt selbst so albern.
»Warum nicht?«, antwortet Gavin. »Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass sie Nein sagen.«
»Ja, okay«, stimme ich ihm zu. Ich schüttele den Kopf, will dieses unsinnige Gespräch endlich hinter mir haben. »Und du meinst, wir können ihn finden? Jetzt, wo wir ein Geburtsdatum haben?«
»Ich glaube, es erhöht unsere Chancen«, sagt Gavin. »Vielleicht ist er noch immer irgendwo dort draußen.«
»Vielleicht«, pflichte ich ihm bei. Vielleicht ist er aber auch schon längst gestorben, und diese ganze Suche ist ein völlig aussichtsloses Unterfangen . »Hey, danke«, sage ich, und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm für das Gespräch danke, das wir eben geführt haben, oder ob es nur ein Dank dafür ist, dass er uns hilft, Jacob zu finden.
»Gern geschehen, Hope. Ich werde morgen bei ein paar Synagogen anrufen. Vielleicht ergibt sich ja irgendetwas. Und wir sehen uns morgen Abend im Krankenhaus.«
»Danke«, sage ich noch einmal. Und dann hat er aufgelegt, und ich halte den Hörer in der Hand, während ich mich frage, was das eben eigentlich war. Kann es sein, dass ich einfach alt und verbittert geworden bin und dass dieser Typ Ende zwanzig mehr über das Leben und die Liebe weiß als ich?
Als ich an diesem Abend einschlafe, wünsche ich mir zum ersten Mal, seit ich mich erinnern kann, sehnlichst, ich wäre nur ein Riesendummkopf und all die Dinge, an die ich zu glauben gelernt habe, wären gar nicht wahr.
21
Annie und Alain begleiten Gavin am nächsten Abend zur Synagoge, und ich bleibe über die Besuchszeit hinaus bei Mamie. Dafür habe ich die Schwestern auf ihrer Etage mit einem Zitronen-Trauben-Käsekuchen und einer Schachtel Kekse aus der Bäckerei bestochen.
»Mamie, du musst aufwachen«, flüstere ich ihr zu, während es im Zimmer allmählich düster wird. Ich halte ihre Hand, mit Blick zum Fenster, das sich auf
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