Solange am Himmel Sterne stehen
Vater ist, trinken Alain und ich in der Küche eine Tasse Tee, und nachdem er zu Bett geschlurft ist, bleibe ich noch lange am Tisch sitzen und sehe zu, wie sich der Sekundenzeiger an der Wanduhr in einem fort im Kreis dreht. Ich denke darüber nach, wie die Zeit vergeht, ohne dass irgendjemand sie aufhalten kann. Bei dem Gedanken fühle ich mich machtlos und klein. Ich denke an die schier unendliche Zahl von Sekunden, die verstrichen sind, seit meine Großmutter Jacob verloren hat.
Es ist fast elf, als ich zum Telefon greife, um Gavin anzurufen, und obwohl ich weiß, dass es unangemessen spät ist, überkommt mich auf einmal ein Gefühl von Panik, dass es, wenn ich ihm nicht in genau dieser Sekunde von Jacobs Geburtsdatum berichte, zu spät sein könnte. Natürlich, es ist ein alberner Gedanke. Siebzig Jahre sind verstrichen, ohne dass irgendetwas passiert ist. Aber zu sehen, wie Mamie im Krankenhaus Tag um Tag dahinsiecht, hat mir das unerbittliche Voranrücken des Sekundenzeigers deutlich vor Augen geführt.
Gavin nimmt beim dritten Klingeln ab.
»Habe ich dich geweckt?«, frage ich.
»Nein, ich habe eben einen Film zu Ende gesehen«, antwortet er.
Auf einmal komme ich mir idiotisch vor. »Oh. Wenn jemand bei dir ist, kann ich später wieder anrufen …«
Er lacht. »Ich bin allein, auf meiner Couch. Es sei denn, du zählst die Fernbedienung als jemanden.«
Ich bin völlig unvorbereitet auf das Gefühl von Erleichterung, das mich durchströmt. Ich räuspere mich, um zu sprechen, aber er kommt mir zuvor. »Hope. Ist alles okay?«
»Ja.« Ich schweige kurz und platze dann heraus: »Ich habe Jacob Levys Geburtsdatum herausgefunden.«
»Das ist ja toll!«, sagt Gavin. »Wie hast du das gemacht?«
Ich fasse ihm kurz die Geschichte zusammen, die Alain mir vorhin erzählt hat.
»Das ist ja eine tolle Sache«, sagt Gavin, als ich fertig bin. »Klingt, als ob die beiden wirklich füreinander bestimmt waren.«
»Ja«, pflichte ich ihm bei.
Einen Augenblick lang herrscht Schweigen, und ich sehe wieder zu der Wanduhr hoch. Tick-tack, tick-tack. Der Sekundenzeiger scheint sich über mich lustig zu machen.
»Hope, was ist los?«, fragt Gavin.
»Ach nichts.«
»Ich könnte jetzt anfangen zu raten«, sagt Gavin. »Oder du erzählst es mir einfach.«
Ich lächele ins Telefon. Er ist sich so sicher, dass er mich kennt. Tatsache ist, er kennt mich wirklich. »Glaubst du daran?«, frage ich.
»Woran?«
»Du weißt schon«, murmele ich. »Liebe auf den ersten Blick. Oder, du weißt schon, Seelenverwandtschaft. Oder wie immer man das nennt, was meine Großmutter und Jacob Levy offenbar hatten.«
Gavin schweigt kurz, und in der Stille komme ich mir wie eine Idiotin vor. Warum frage ich ihn so etwas überhaupt? Vermutlich denkt er, dass ich ihn anbaggern will. Ich mache den Mund auf, um meine Worte zurückzunehmen, aber er kommt mir zuvor.
»Ja.«
»Ja?«
»Ja. Ich glaube an diese Art Liebe. Du nicht?«
Ich schließe die Augen. Auf einmal verkrampft sich mein Herz schmerzhaft, denn mir wird bewusst, dass ich es nicht tue. »Nein«, sage ich. »Ich denke nicht.«
»Hmm«, macht Gavin.
»Hast du denn je so für jemanden empfunden?«
Er schweigt kurz. »Ja.«
Ich will ihn fragen, für wen, aber dann wird mir bewusst, dass ich es eigentlich gar nicht wissen will. Ich verspüre einen Anflug von Eifersucht, den ich rasch verscheuche. »Na, das ist ja schön«, sage ich stattdessen.
»Ja«, sagt Gavin leise. »Warum glaubst du nicht daran?«
Die Frage habe ich mir noch nie gestellt. Ich denke einen Augenblick darüber nach. »Vielleicht, weil ich sechsunddreißig bin«, sage ich, »und es bis jetzt noch nie gefühlt habe. Hätte ich es nicht längst fühlen müssen, wenn es so etwas wirklich geben würde?«
Die Worte schweben zwischen uns, und ich nehme an, dass Gavin überlegt, wie er mir antworten soll, ohne mich zu kränken. »Nicht unbedingt«, sagt er vorsichtig. »Ich nehme an, du bist verletzt worden. Sehr sogar.«
»Bei meiner Scheidung?«, frage ich. »Aber das ist ja auch noch nicht lange her. Und was ist mit davor?«
»Du warst mit deinem Mann zusammen, seit du, was, einundzwanzig, zweiundzwanzig warst?«
»Dreiundzwanzig«, murmele ich.
»Glaubst du, er war deine große Liebe?«
»Nein«, sage ich. »Aber sag das bloß nicht Annie.«
Gavin lacht leise. »Das würde ich niemals tun, Hope.«
»Ich weiß.«
Wieder schwebt für einen Moment Schweigen zwischen uns. »Ich denke, du hast vermutlich
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