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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Harmel
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kam, hatte er die ganzen gerahmten Kunstwerke auf meinem Speicher an den Wänden aufgehängt; und heute hat er meine Speisekammer und das Gefrierfach, die beide so gut wie leer waren, ausgeräumt und mit neuen Vorräten aufgefüllt.
    »Das ist das Mindeste, was ich tun kann«, sagt Alain, als ich ihn fassungslos zur Rede stelle. »Das macht gar keine Umstände. Ich habe mir ein Taxi zum Supermarkt genommen.«
    Im Krankenhaus, an Mamies Bett, hält Alain meine Hand, während wir bei Mamie sitzen. Er murmelt ihr eine Weile auf Französisch zu, und ich überbringe, wie versprochen, Annies Nachricht, auch wenn ich nicht glaube, dass Mamie mich durch den Nebel ihres Komas hören kann. Ich weiß, Alain und Annie glauben beide, dass sie noch immer bei uns ist, aber ich selbst bin mir da nicht so sicher. Ich behalte dieses Gefühl für mich.
    Ich muss an Gavin denken, während Alain mit Mamie flüstert, und ich bin mir nicht ganz sicher, warum. Ich glaube, es ist einfach, weil er so hilfsbereit war und ich mich einsamer denn je fühle.
    Schließlich lehnt sich Alain auf seinem Stuhl zurück, offenbar fertig mit irgendeiner Geschichte, die er Mamie erzählt hat. Sie schläft noch immer, während ihre schmale Brust sich sanft hebt und senkt.
    »Sie sieht so friedlich aus«, sagt Alain. »Als wäre sie an irgendeinem glücklicheren Ort als hier.«
    Ich nicke, während ich auf einmal Tränen wegblinzeln muss. Sie sieht tatsächlich friedlich aus, aber das bestärkt mich nur in meiner Vermutung, dass sie schon nicht mehr bei uns ist, und das treibt mir die Tränen in die Augen. »Alain«, sage ich einen Augenblick später, »du weißt nicht zufällig Jacobs Geburtsdatum, oder?«
    Alain schüttelt lächelnd den Kopf, und im ersten Augenblick fasse ich das so auf, dass er es nicht weiß. Aber dann sagt er: »Ich weiß es tatsächlich. Rose und ich haben ihn am Abend vor seinem sechzehnten Geburtstag kennengelernt.«
    Ich beuge mich gespannt vor. »Wann denn?«
    »Es war an Heiligabend 1940.« Alain schließt lächelnd die Augen. »Rose und ich sind zusammen durch den Jardin du Luxembourg gegangen. Sie hatte mich mitgenommen, um eine Freundin im Quartier Latin zu besuchen, und wir hatten es eilig, vor der Sperrstunde nach Hause zu kommen; die Deutschen bestanden darauf, dass dann jeder in Paris bei zugezogenen Verdunklungsvorhängen zu Hause war.
    Aber Rose liebte diesen Park, und wir kamen auf dem Weg zum sechsten Arrondissement in der Nähe vorbei, daher schlug sie vor, durch den Park zu gehen«, fährt Alain fort. »Und wir gingen, wie wir es immer taten, zu ihrer Lieblingsstatue dort, der Freiheitsstatue.«
    »Der Freiheitsstatue?«, wiederhole ich.
    Er lächelt. »Das Originalmodell, das Auguste Bartholdi, der Künstler, verwendet hat. Eine andere steht mitten auf der Seine, nicht weit vom Eiffelturm. Eure Statue, die im Hafen von New York, war ein Geschenk Frankreichs an die Vereinigten Staaten, weißt du.«
    »Das habe ich in der Schule gelernt«, sage ich. »Ich wusste nur nicht, dass es ähnliche Statuen in Frankreich gibt.«
    Alain nickt. »Die Statue im Jardin du Luxembourg war Roses Lieblingsstatue, als wir jung waren, und an jenem Abend hatte es, als wir die Statue erreichten, eben zu schneien begonnen. Die Flocken waren so winzig und leicht, dass es war, als befänden wir uns in einer Schneekugel. Alles war ganz still und friedlich, obwohl Krieg herrschte. Aber in diesem Augenblick war die Welt einfach zauberhaft.«
    Seine Stimme verliert sich, und er sieht Mamie an. Er streckt eine Hand aus, um ihre Wange zu berühren, wo so viele Jahre ihres Lebens ohne ihn auf ihrem Gesicht eingegraben sind.
    »Erst als wir uns der Statue näherten«, fährt er nach einer langen Pause fort, »sahen wir, dass wir nicht allein waren. Ein Junge mit dunklen Haaren und in einer dunklen Jacke stand auf der anderen Seite. Er wandte sich zu uns um, als wir nur noch ein paar Schritte entfernt waren, und Rose blieb unvermittelt stehen, als hätte es ihr den Atem verschlagen.
    Aber der Junge ging nicht auf uns zu und wir nicht auf ihn«, fährt Alain fort. »Die beiden starrten sich nur sehr lange an, bis ich Rose schließlich an der Hand zog und sagte: ›Warum sind wir hier stehen geblieben?‹«
    Alain schweigt einen Moment, um sich zu sammeln. Er sieht kurz zu Mamie und lehnt sich dann wieder zurück.
    »Rose beugte sich zu mir herunter und sagte: ›Wir sind hier stehen geblieben, weil es sehr wichtig ist, dass du begreifst, dass der Ort,

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