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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Harmel
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bei der Vorstellung, wie Jacob und seine Familie in ein Todeslager verschleppt wurden. Ich schlucke schwer.
    »Was ist mit Ihrer Familie passiert?«, fragt Gavin Jacob leise. Er drückt wieder meine Hand und sieht mich besorgt an.
    Jacob holt einmal tief Luft. »Meine Mutter und meine Schwester haben die erste Selektion in Auschwitz nicht überlebt. Meine Mutter war schwach und gebrechlich, und meine Schwester war klein für ihre zwölf Jahre und wurde vermutlich als nicht arbeitsfähig eingestuft. Sie wurden sofort in die Gaskammer geschickt. Ich bete, dass sie gar nicht mitbekamen, was mit ihnen passierte. Aber ich befürchte, zumindest meine Mutter wusste genug, um es zu begreifen. Die Vorstellung lässt mich nicht los, dass sie schreckliche Angst gehabt haben muss.«
    Er hält kurz inne, um sich zu sammeln. Ich finde keine Worte, um die Pause zu füllen, daher warte ich einfach ab.
    »Mein Vater und ich wurden beide in die Baracken geschickt«, fährt er fort. »Anfangs haben wir uns noch gegenseitig Mut gemacht, so gut wir konnten. Aber schon bald wurde er sehr krank. Es gab eine Epidemie in Auschwitz. Typhus. Für meinen Vater begann es mit Schüttelfrost in der Nacht, und dann kamen die Schwäche und ein schrecklicher Husten dazu. Die Wachleute zwangen ihn trotzdem zu arbeiten, und obwohl ich und die anderen Häftlinge versuchten, ihm die Arbeit so leicht wie möglich zu machen, war die Krankheit ein Todesurteil. Ich saß in seiner letzten Nacht bei ihm, während das Fieber in seinem Körper wütete. Er starb irgendwann im Herbst 1942. Ich kann unmöglich sagen, an welchem Tag, in welcher Woche, welchem Monat, denn in Auschwitz hörte die Zeit in jedem normalen Sinn auf zu existieren. Aber er starb vor dem ersten Schneefall, so viel weiß ich.«
    »Es tut mir so leid«, bringe ich schließlich hervor. Die Worte klingen erbärmlich unpassend.
    Jacob nickt langsam und sieht einen Moment aus dem Fenster, bevor er sich wieder zu uns umwendet. »Am Ende hatte er seinen Frieden gefunden. In den Lagern war es so: Wenn die Menschen starben, dann sahen sie fast aus wie schlafende Kinder, unschuldig und endlich ohne Sorgen. Für meinen Vater war es genauso. Ich war froh, sein Gesicht so zu sehen, denn da wusste ich, dass er endlich frei war. Im Judentum ist die Vorstellung eines Himmels nicht so klar definiert wie im Christentum. Aber ich glaubte und glaube noch immer, dass mein Vater meine Mutter und meine Schwester auf irgendeine Weise wiedergefunden hat. Und das spendet mir Trost, selbst heute noch. Die Vorstellung, dass sie wiedervereint wurden, dass sie wieder zusammen sind.«
    Er lächelt, ein verbittertes, trauriges Lächeln. »In Auschwitz gibt es ein Schild, auf dem steht: ›Arbeit macht frei.‹ Aber in Wahrheit machte uns dort nur der Tod frei. Und zuletzt war meine Familie frei.«
    »Wie haben Sie es geschafft zu überleben?«, fragt Gavin. »Sie müssen doch über zwei Jahre in Auschwitz gewesen sein.«
    Jacob nickt. »Fast zweieinhalb. Aber Tatsache war, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich hatte Rose versprochen zurückzukommen, um sie zu holen. Und ich konnte und wollte dieses Versprechen nicht brechen. Nach der Befreiung ging ich zurück, um sie zu finden. Ich war mir so sicher, dass ich wieder mit ihr zusammen sein würde, dass wir wiedervereint werden würden, dass wir unser Kind gemeinsam großziehen, vielleicht noch mehr Kinder haben und dem Schatten des Krieges irgendwie entkommen würden.«
    Gavin und ich hören gebannt zu, während Jacob uns erzählt, wie er zurück nach Paris kam, wie er verzweifelt nach Rose suchte, wie er aus tiefster Seele glaubte, dass sie überlebt hatte. Er erzählt uns von seiner Verzweiflung, als er sie nicht finden konnte, von seinen Gesprächen mit Alain, der allein und verloren war, nachdem seine ganze Familie umgekommen war, und sich in der Obhut einer internationalen Flüchtlingsorganisation befand.
    »Schließlich ging ich nach Amerika«, sagt er, »denn das war der Ort, an dem Rose und ich, wie wir es uns versprochen hatten, wieder zusammenkommen wollten. Ich habe versucht, meine Seite des Versprechens zu halten, versteht ihr. Und so habe ich die letzten neunundfünfzig Jahre jeden Tag an der Spitze des Battery Park gewartet. Das ist der Treffpunkt, den wir vereinbart hatten. Ich war immer fest davon überzeugt, dass sie kommen würde.«
    »Du warst jeden Tag dort?«, frage ich.
    Jacob lächelt. »Fast jeden Tag. Ich hatte natürlich einen Job, aber ich bin

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