Solange am Himmel Sterne stehen
stur geradeaus und konzentriert sich auf die Straße.
Wir fahren schweigend weiter, den West Side Highway hoch, durch den nördlichen Teil von Harlem auf die I-95 und schließlich über die Brücke aufs Festland.
»Kann ich Sie etwas fragen, Mr Levy?« Ich drehe mich zu ihm um.
»Bitte, nenn mich Jacob«, meint er. »Natürlich könntest du auch Großvater zu mir sagen. Aber dafür ist es vermutlich zu früh.«
Ich schlucke schwer. Ich habe Mitleid mit dem Mann, den ich mein Leben lang Opa genannt habe. Ich wünschte, ich hätte die Wahrheit gekannt, als er noch am Leben war. Ich wünschte, ich hätte ihm für all das danken können, was er getan hatte, um meine Großmutter und meine Mutter zu retten. Ich wünschte, ich hätte schon früher verstanden, wie viel er selbst dabei vermutlich verloren hat.
»Jacob«, sage ich nach einer Pause. »Was ist in Frankreich passiert? Im Krieg? Meine Großmutter hat nie ein Wort darüber verloren; selbst dass sie Jüdin ist, haben wir erst vor ein paar Wochen erfahren.«
Jacob blickt verblüfft. »Wie kann das sein? Was habt ihr denn gedacht?«
»Als sie aus Frankreich hierherkam«, erzähle ich ihm, »kam sie unter dem Namen Rose Durand. Mein Leben lang ist sie in eine katholische Kirche gegangen.«
» Mon Dieu «, murmelt Jacob.
»Ich wusste nie, was im Holocaust mit ihr passiert ist«, fahre ich fort. »Ich wusste nie etwas von ihrer Familie. Von dir. Sie hat alles geheim gehalten, bis vor ein paar Wochen, als sie mir eine Liste mit Namen gegeben und mich gebeten hat, nach Paris zu fahren.«
Ich berichte ihm kurz von meiner Reise nach Paris, wie ich Alain gefunden habe und mit ihm zurückgekommen bin. Seine Augen leuchten auf.
»Alain ist hier?«, fragt er. »In den Vereinigten Staaten?«
Ich nicke. »Vermutlich ist er in diesem Augenblick bei meiner Großmutter.« Mir fällt ein, dass ich ihn und Annie anrufen muss, dass ich den beiden mitteilen muss, dass wir Jacob gefunden haben. Aber zuerst will ich unbedingt seine Geschichte hören. »Bitte, kannst du mir erzählen, was passiert ist? Es gibt so vieles, was ich nicht weiß.«
Jacob nickt, aber anstatt zu sprechen, wendet er sich ab und sieht aus dem Fenster. Er schweigt einen langen Augenblick, während ich verrenkt auf meinem Platz sitze und ihn anstarre. Gavin wirft einen Blick auf mich.
»Alles okay mit dir?«, fragt er leise.
Ich nicke lächelnd, dann wende ich mich wieder zur Rückbank um. »Jacob?«, frage ich leise.
Er scheint aus einer Trance wieder zu sich zu kommen. »Ja, Entschuldigung. Ich bin nur so überwältigt.« Er räuspert sich. »Was möchtest du wissen, liebe Hope?«
Er sieht mich mit einer solchen Wärme an, dass ich von Traurigkeit und Glück zugleich durchströmt werde.
»Alles«, murmele ich.
Und so beginnt Jacob mit seiner Geschichte. Er erzählt uns, wie er meine Großmutter und Alain an Heiligabend 1940 im Jardin du Luxembourg kennenlernte und dass er auf den ersten Blick wusste, dass Rose seine große Liebe war. Er vertraut uns an, dass er sich schon früh der Widerstandsbewegung anschloss, weil sein Vater ihr angehörte und weil er glaubte, dass die Juden anfangen müssten, sich selbst zu retten. Er erzählt uns, dass er und meine Großmutter oft von einer gemeinsamen Zukunft in Amerika sprachen, wo sie sicher und frei sein könnten, wo die Leute nicht wegen ihrer Religion verfolgt wurden.
»Es erschien uns wie ein Zauberland«, sagt er, während er aus dem Fenster sieht. »Ich weiß, dass die jungen Leute jetzt, in der heutigen Welt, die Freiheit als selbstverständlich ansehen. All das, was ihr habt, all die Freiheiten, die ihr genießt, das sind Dinge, mit denen ihr geboren wurdet. Aber im Zweiten Weltkrieg hatten wir keine Rechte. Unter der deutschen Besatzung galten diejenigen von uns, die Juden waren, als der letzte Abschaum, Ungeziefer in den Augen der Deutschen und auch vieler Franzosen. Rose und ich träumten davon, in einem Land zu leben, in dem so etwas niemals passieren würde, und für uns war Amerika dieses Land. Amerika war unser Traum. Wir planten, gemeinsam hierherzukommen, um eine Familie zu gründen.
Aber dann kam jene entsetzliche Nacht. Roses Familie wollte uns nicht glauben, wollte nicht glauben, dass die Razzia unmittelbar bevorstand. Ich bestand darauf, dass sie mit mir mitkam, dass sie unser Kind retten musste. Sie war in der zehnten Woche schwanger. Der Arzt hatte es bestätigt. Daher wusste sie ebenso wie ich, dass es jetzt das Wichtigste war,
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